Der Koalitionsvertrag der künftigen Regierung will „mehr Fortschritt wagen" – und das in zahlreichen Lebensbereichen. Was bedeutet die neue Koalition für unser Leben direkt vor der Haustür, für das Wohnen, die Familie?
Es ist ein großer Wurf, den die Ampelkoalition auf den Seiten ihres Koalitionsvertrages vorhat: „Mehr Fortschritt wagen" bedeutet, Deutschland innerhalb von vier Jahren zukunftsfest zu machen. Wie viel das kosten wird, ist im Vertrag nicht ersichtlich. Klar ist: Es wird teuer. Woher das Geld kommen soll, bleibt ebenfalls vage, abgesehen vom Versprechen, keine Steuern zu erhöhen. Angesichts eines gewaltigen coronabedingten Schuldenberges von Bund, Ländern, Kommunen und der Sozialversicherung von derzeit historischen 2,3 Billionen Euro ist es also die zentrale Aufgabe, Geld zur Ermöglichung dieser Vorhaben erst einmal zusammenzusparen.
Eines dieser Vorhaben: den Fokus auf Familie und Kinder legen. Seit Jahren verharrt die Kinderarmut in Deutschland auf hohem Niveau, 2,8 Millionen Kinder gelten nach Schätzungen der Bertelsmann-Stiftung als armutsgefährdet – je nach Definition, weil sie in Familien aufwachsen, die Hartz-IV beziehen oder in Haushalten leben, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland zur Verfügung haben. Laut Vertrag haben die Koalitionspartner diese Familien und Kinder verstärkt im Blick. Dazu gehört beispielsweise, dass die Erwerbstätigkeit von Frauen gefördert werden soll, dass Alleinerziehende Gutscheine und Zulagen für alltagsunterstützende Dienstleistungen erhalten und Kinderrechte im Grundgesetz verankert werden. Dies hat bereits die jetzt geschäftsführende Koalition versucht, ist allerdings an der nötigen Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat gescheitert.
Kinderrechte und -grundsicherung
Finanziell sollen Leistungen wie Kinderzuschlag, Kindergeld oder das Teilhabepaket in eine Kindergrundsicherung überführt werden. Sie bestehe aus „einem einkommensunabhängigen Garantiebetrag, der für alle Kinder und Jugendlichen gleich hoch ist, und einem vom Elterneinkommen abhängigen, gestaffelten Zusatzbetrag. Volljährige Anspruchsberechtigte erhalten die Leistung direkt."
Gleichzeitig soll die Familie gestärkt werden. Dabei heißt es, dass Familie vielfältig sei – ein gesellschaftspolitischer Meilenstein, der die klassische Familie um all jene Formen heutiger Familien erweitert. Bemerkenswert: die einzuführende „Verantwortungsgemeinschaft", die unabhängig von Ehe oder Liebesbeziehungen rechtlich gegenseitig Verantwortung übernehmen kann, also zum Beispiel auch im Freundeskreis.
Noch deutlicher wird der identitätspolitische Neuansatz der Ampel in der geplanten Einführung eines Selbstbestimmungsgesetzes, das die zuvor aufwendige Geschlechtszuschreibung im Pass durch eine einfache Selbstauskunft beim Standesamt ersetzt, und in der Abschaffung des Paragrafen 219a, der die ärztliche Information über Abtreibungen faktisch unter Strafe stellte.
Im Wahlkampf zunehmend ein politisches Thema: das Problem des Wohnens. In Deutschland fehlen pro Jahr bis zu 500.000 neue Wohnungen, errechnete das Beratungsunternehmen RWI Consult. Diese Lücke will die künftige Regierung teilweise schließen. Wohnen, so stellt es der Koalitionsvertrag fest, sei ein „Grundbedürfnis". Daher will die künftige Regierung vor allem eines: klimagerecht bauen. „Unser Ziel ist der Bau von 400.000 neuen Wohnungen pro Jahr, davon 100.000 öffentlich geförderte Wohnungen." Die Kosten dafür sollen gesenkt werden – durch Bürokratieabbau, Digitalisierung und Standardisierung, flankiert von schnelleren Planungs- und Genehmigungsverfahren.
Von dem vielfach kolportierten „Verbot neuer Eigenheime" in bestimmten Regionen seitens der Grünen ist im Koalitionsvertrag nichts mehr zu lesen. Stattdessen will die künftige Regierung beispielsweise „den Ländern eine flexiblere Gestaltung der Grunderwerbsteuer ermöglichen, um den Erwerb selbst genutzten Wohneigentums zu erleichtern. Zur Gegenfinanzierung nutzen wir das Schließen von steuerlichen Schlupflöchern beim Immobilienerwerb von Konzernen", heißt es. Jene „Share Deals" kosten den Staat Milliarden an Steuergeldern – wie viel genau, konnte die Bundesregierung aber bislang nicht beziffern – ergab 2020 eine Anfrage der Linken. Zum Klimaschutz gehört aber auch, jene Häuser künftig mit Solardächern auszustatten, um dem selbst gesteckten Ziel von maximal 1,5 Grad Erderwärmung Rechnung zu tragen.
Neben dem klimagerechten Bauen nimmt das klimagerechte Autofahren noch immer einen erheblichen Anteil im Koalitionsvertrag ein. Bis Oktober 2021 haben die Behörden 267.000 Elektroautos in diesem Jahr in Deutschland zugelassen – ein Rekord. Der Wandel soll jedoch hier nicht Halt machen. Die neue Regierung plant das „Dieselprivileg", also die steuerliche Begünstigung von Dieselfahrzeugen, zu „überprüfen", sollten sich EU-Richtlinien ändern. Gleichzeitig laufen die Fördertöpfe für neue Elektro- oder Plug-in-Hybrid-Fahrzeuge und ihre Ladestationen bereits heute schon leer. Sorgen machen muss sich dennoch niemand: Die Regierung plant die Innovationsprämie bis Ende 2023 zu verlängern, vor allem angesichts der Lieferschwierigkeiten vieler Autobauer, erst danach soll sie sinken und 2025 auslaufen. Dennoch müssen die Unternehmen die elektrischen Kapazitäten von Plug-in-Hybriden in den kommenden Jahren teils deutlich erhöhen: Ab 1. August 2023 soll die Mindestreichweite 80 Kilometer betragen, die Ladeinfrastruktur deutlich ausgebaut werden.
Doch auch der öffentliche Verkehr soll gezielt gestärkt werden: die Bahn als „Rückgrat" soll in ihrem Schienennetz ausgebaut werden, private Anbieter, wie bereits auch jetzt schon, das Angebot ergänzen. Doch auch der ÖPNV könnte diesmal ein Gewinner sein. So sollen die Regionalisierungsmittel, die der Bund für diese Aufgabe bereitstellt, erhöht werden und die Mobilitätsanbieter ihre Echtzeitdaten zur Verfügung stellen, um damit auf digitalem Wege eine bessere Vernetzung der Angebote zu ermöglichen. Insgesamt, so schreiben die Koalitionäre, soll der Nahverkehr attraktiver werden und seine Kapazitäten ausbauen – alles andere als ein neues Unterfangen, welches jedoch diesmal mit digitaler Hilfe und Gesprächen über Tarifstrukturen auf eine tiefergehende, anbieterübergreifende Vernetzung abzielt. Nur auf diese Weise böte sich ein echter Mehrwert, der für Interessenten einen Umstieg vom Individualverkehr sinnvoll erscheinen lässt. Vor allem aber Radfahrer hätten sich wahrscheinlich eine stärkere Gewichtung des Zweirads von der Ampel erhofft, hier werden jedoch lediglich Maßnahmen wie der Nationale Radverkehrsplan fortgeschrieben.
Nahverkehr stärken, Prämie verlängern
Was „Fortschritt" konkret bedeutet, können zudem zahlreiche deutsche Kommunen bereits jetzt absehen: Er kostet mehr Geld. Das aber ist auch hier knapp. 2019 bereits hatten ihn die Linke und die kommunalen Spitzenverbände in den Ring geworfen, Olaf Scholz nahm ihn als Bundesfinanzminister auf: den Altschuldenfonds, der alte Kassenkredite der hochverschuldeten deutschen Kommunen übernimmt und ihnen damit Luft zum Atmen, Spielraum zum Investieren schenkt. Denn höhere Investitionen in die Infrastruktur, in Schulen, Kitas, Straßen, Strom und Wasser würden den Investitionsstau in Höhe von nunmehr 149 Milliarden Euro abschmelzen, mit wünschenswertem Nebeneffekt. Eine moderne Nahversorgung lockt dringend benötigte Fachkräfte ins Land und sichert gleichwertige Lebensverhältnisse in Stadt und Land. Hat der Fonds den Weg in den Koalitionsvertrag geschafft? Nein. Die Koalitionäre wollen „den Kommunen helfen", im Rahmen der Bund-Länder-Finanzbeziehung das Problem der Altschulden anzugehen. Konkretes bleibt der Vertrag schuldig. Offenbar konnte sich die SPD an dieser Stelle mit ihrer Fondslösung nicht direkt durchsetzen. Dennoch sollen noch 2022 Gespräche mit dem Bundestag und dem Bundesrat in Richtung einer entsprechenden Grundgesetzänderung starten. Ein Lichtblick für die Städte und Gemeinden.
Die Vorhaben, die die Ampel damit skizziert, tragen damit durchaus einer veränderten Lebenswirklichkeit in Deutschland Rechnung.
Endlich, mögen manche sagen. Viel zu teuer, die anderen. Geld beschaffen soll daher der kommende Finanzminister – durch Subventionsabbau. Und dies wird auch uns, die Bürger, treffen.