Der Koalitionsvertrag steht. Wenn die Parteien den Weg frei machen, wird Deutschland nach 16 Jahren wieder von einem SPD-Kanzler und erstmals von einer Ampel regiert. Den großen Herausforderungen stehen ehrgeizige Ziele gegenüber. Zum Start ist die schwerste Pandemiewelle die wichtigste Bewährungsprobe.
Für ein „Habemus Kanzler" war es noch zu früh. Aber immerhin reichte es dem designierten Kanzler für ein „Wir haben eine Ampel". Über der ganzen Präsentation des ausgehandelten Koalitionsvertrages lag etwas von weißem Rauch, der über den zuletzt angespannten und nervösen Verhandlungen aufgestiegen war. Da war viel die Rede von Lerneffekten und neuem Verständnis, von erklärtem gegenseitigem Respekt und Demut angesichts der Aufgabe. Kurzum, ein sichtliches Bemühen, bei allem Widerstreit der unterschiedlichen Partner etwas von dem zu bewahren, was während der Sondierung und den Verhandlungen erstaunlich gut funktioniert hat: Vertrauensbildung durch ein Schweigegelübde, zumindest den Verzicht auf Durchstechereien an Medien und sonstwie Interessierten. Alles andere wäre auch mehr als fahrlässig gewesen in einer Situation, wo die Entwicklung der Pandemie auf eine Situation hinsteuert, die alle Belastungsgrenzen zu überschreiten droht. Zumindest für die ersten beiden Wochen nach der Wahl haben sich die Wahlsieger als lernfähig erwiesen. FDP und Grünen dürfte noch ihre gemeinsame Verhandlungserfahrung von vor vier Jahren in den Knochen gesteckt haben. Die SPD hat ohnehin einen langen Weg hinter sich. Eine Alternative gab es bekanntlich nach dem Ausfall der Union nicht. Das hätte jedem der künftigen Partner ein Stück weit auch ein Drohpotenzial gegeben, was aber, soweit man es bisher aus den Verhandlungen weiß, nicht in größerem Umfang ausgespielt wurde. Auch wenn es an der ein oder anderen Stelle ordentlich gekracht hat. Alles andere wäre aber auch ziemlich unnatürlich gewesen.
Dreierbündnis auf Augenhöhe
Schließlich haben es die künftigen Ampelianer hinbekommen, die ohnehin überholte Einordnung in konservativ-liberale und rot-grüne Lager endgültig und sichtbar zu überwinden und sich unter einem Fortschrittsmotiv zu versammeln. Den Begriff muss man an dieser Stelle wörtlich nehmen, geht es doch darum, den bisherigen Stillstand aufzulösen und das Land in Bewegung zu versetzen. Und das am besten gleich mit einem Schnellstart. Vor dem steht aber erst noch die Zustimmung der Parteien. Die Grünen-Spitze hat von der ersten Minute der Vorstellung des Koalitionsvertrages und erst Recht nach der Entscheidung über die Grünen-Ministerriege alle Hände voll zu tun, die Basis bei ihrem Votum bei der Stange zu halten. Eine Herausforderung der besonderen Art, die sich schon am Verlauf der Verhandlungen ablesen ließ. Dort sollen die Grünen in etlichen Arbeitsgruppen mit vergleichsweise umfangreichen Papieren versucht haben, möglichst viele Interessen aus ihnen nahe stehenden Bürgerinitiativen einzubringen. Was natürlich zu Dauerkonflikt zwischen vor Ort unter Umständen nachvollziehbaren Interessen und gesamtgesellschaftlichen notwendigen Entwicklungen führt. Das ist schon in der Opposition ein Balanceakt, in verantwortlicher Regierungsbeteiligung umso schwieriger. SPD – und erst recht FDP – haben da erheblich weniger Probleme, ihrer jeweiligen Partei das Ergebnis zu erklären. Dabei wird dem Koalitionsvertrag durch die Bank bescheinigt, dass sich daraus keine eindeutigen Gewinner oder Verlierer ablesen lassen.
Niemand ist eindeutiger Gewinner
Auch das wird ein neuer Aspekt durch die neue Koalition. Natürlich hat die SPD deutlich die Nase vorn, aber sie hat es nicht einfach mit zwei kleineren Koalitionspartnern zu tun. Nicht nur Olaf Scholz weiß, dass da drei Partner ziemlich auf Augenhöhe zusammenarbeiten müssen. Nicht nur wegen des zahlenmäßigen Ergebnisses der Wahl, sondern weil alle drei in ihren politischen Kernbeständen die Themen repräsentieren, bei denen das Land vor massiven Herausforderungen steht. Klimawandel, Transformation, soziale Ausgewogenheit und neuer Aufbruch. So gesehen ist die Kombination in der Ampel die, die am besten zu den großen Themen dieses Jahrzehnts passen kann. Und das, obwohl sie im Wahlkampf keine wirklich diskutierte Option war, sieht man von den üblichen arithmetischen Denkspielen ab. Darin liegt eine – ungewollte und ungeplante – Chance. Inhaltlich, aber auch im Stil.
Natürlich wird niemand erwarten, dass sich die Umgangsformen im Berliner Politikbetrieb (dazu zählen auch die Medien) einfach und von heute auf morgen ändern. Aber inzwischen dürfte einigermaßen klar geworden sein, dass sich die ohnehin vorhandenen massiven Herausforderungen nicht mit Politikritualen der Vergangenheit bewältigen lassen. Und dass die Menschen im Land zu Recht etwas anderes erwarten und erwarten müssen, als parteipolitisches Klein-Klein. Natürlich wird dabei viel vom künftigen Kanzler abhängen. Gleichzeitig können und dürfen sich die beiden Partner nicht wie Juniorpartner und gelegentlich wie eine Opposition innerhalb der Regierung gerieren, sondern müssen ihre Verantwortung annehmen. Das wird nicht in allen Fällen leicht fallen. Erst recht nicht mit Blick auf die Opposition. Die Union wird sich nicht so leicht und auch nicht so schnell wieder fangen nach dem Wahldesaster. Dafür gibt es auch zu viele Versäumtes aufzuarbeiten. Konstruktive Opposition dürfte da zumindest absehbar kaum zu erwarten sein. Die Linke ist zu schwach, und von der AfD ist auch kaum etwas anderes zu erwarten als in der letzten Legislaturperiode. Üblicherweise lässt man einer neuen Regierung, erst recht nach einem so grundlegenden Wechsel, eine „Hundert-Tage-Anfangsfrist". Die wird die Ampel nicht haben. Die Bewältigung der vierten Pandemiewelle, die nach Experteneinschätzung ihren Höhepunkt noch nicht erreicht hat, und die gleichzeitige Warnung vor einer fünften Welle mit neuen Mutationen fordern alle Kräfte. Die Vermutung ist nicht zu gewagt, dass diese Entwicklungen die Voraussetzungen für die Arbeit der nächsten Jahre noch einmal deutlich verändern.