Der Deutsche Olympische Sportbund stellt sich personell neu auf. Bei den vorgezogenen Neuwahlen wird ein neues Oberhaupt des Verbandes gesucht. Doch Corona ist die große Ungewissheit.
Christian Wulff weiß nur zu gut, wie sehr ein Skandal alles andere in den Schatten stellen kann. Die sogenannte Wulff-Affäre, die vor zehn Jahren begann und schließlich im Rücktritt des damaligen Bundespräsidenten mündete, überlagerte komplett die Arbeit des Politikers. Alle interessierten sich nur noch für Kreditfinanzierungen, Urlaubsreisen nach Sylt und die verhängnisvolle Mailbox-Nachricht an den Axel-Springer-Verlagschef. Wulff weiß also ganz genau, wovon er spricht, wenn er dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) rät, „sich wieder um das Eigentliche zu kümmern und nicht um seine internen Konflikte".
Machtkämpfe, der „Klima der Angst"-Vorwurf, die entlarvende Brief-Affäre, die Rücktritte von Präsident Alfons Hörmann und der Vorstandsvorsitzenden Veronika Rücker – der DOSB versank zuletzt tief im Chaos. Die drängenden Sachthemen wie der besorgniserregende Mitgliederschwund, die seit Jahren schwächelnden Olympia-Leistungen, die maroden Sportstätten und die vielen Ausfälle im Schulsport blieben weitestgehend unberührt. Der Dachverband mit 100 Mitgliedsorganisationen und 27 Millionen Mitgliedschaften bedarf einer dringenden Reform – personell wie strukturell.
Topkandidat Mayer zog zurück
Bei der Mitgliederversammlung am 4. Dezember in Weimar soll es zunächst zu einer personellen Neuaufstellung kommen, die die tiefen Gräben innerhalb des Verbandes schließen muss. Trotz der verschärften Corona-Lage hielt der DOSB zunächst an der Präsenz-Veranstaltung fest – wenn auch in stark reduzierter Form. Sollte das Gesundheitsamt dem Dachverband kurzfristig doch noch einen Strich durch die Rechnung machen, wird die Mitgliederversammlung am 22. Januar 2022 in digitaler Form nachgeholt. Auf jeden Fall soll noch vor der Winter-Olympiade in Peking (4. bis 20. Februar) ein neues Präsidium feststehen.
Und hier kommt Wulff ins Spiel. Der Bundespräsident a. D. leitete die Findungskommission für den DOSB-Chefposten. Er und seine Mitstreiter schlugen zwei Kandidaten und eine Kandidatin vor, die in Weimar um das höchste Funktionärsamt im deutschen Sport konkurrieren sollten: Claudia Bokel, Thomas Weikert und Stephan Mayer. Letzterer sprang jedoch drei Wochen vor der Wahl ab, obwohl Insider dem Parlamentarischen Staatssekretär wegen seines hervorragenden Netzwerkes und seines politischen Gespürs sehr gute Chancen ausgerechnet hatten.
Wulff nannte diesen Schritt „tragisch" und deutete an, dass dem CSU-Politiker Mayer ein Knüppel zwischen die Beine geworfen wurde, weil nach Ansicht einiger DOSB-Mitglieder der Bundestagsabgeordnete kein Ehrenamt im Sport übernehmen dürfe. Martin Engelhard, Präsident der Triathleten, machte zudem „die Entwicklung der vergangenen Wochen und die gesamten Gräben, die sich aufgetan haben", für Mayers Rückzug verantwortlich.
So oder so: Am ersten Dezember-Wochenende stehen in Bokel und Weikert nur noch zwei Personen zur Auswahl, „die mit gutem Gewissen der Aufgabe standhalten" werden, wie Wulff prophezeite. Als Mayer auch noch als Kandidat aufgeführt war, hatte Wulff gar euphorisch geklungen. Sollte die Wahl fair ablaufen, „dann wird dieses neue Präsidium unglaubliche Chancen haben, den Riesen wachzuküssen und ganz anders die PS, die der Sport hat, auf die Straße zu bringen", meinte der 62-Jährige, der den DOSB zu mehr Zusammenhalt ermahnte. Für einen Stimmungsumschwung müsse man „die Werte des Sports" wieder verstärkt in den Mittelpunkt rücken und „aufeinander zugehen statt aufeinander losgehen".
Zuerst muss aber die Wahl absolviert werden. Es zählen 517 Stimmen aus insgesamt fünf Stimm-Gruppen. Die größte entfällt auf die olympischen Spitzenverbände (267 Stimmen), die kleinste auf die Verbände mit besonderen Aufgaben (18). Zudem gibt es 26 personengebundene Stimmen, unter anderem für deutsche IOC-Mitglieder. Wer auch immer die Mehrheit hinter sich vereint: Die wirkliche Arbeit beginnt erst danach. „Man kann nicht nur einzelne Personen austauschen", sagte Engelhardt: „Es braucht einen kompletten Neuanfang." Das FORUM-Magazin stellt die beiden Kandidaten vor:
Thomas Weikert
Nach Mayers Rückzug ist er in der klaren Favoritenrolle. Als langjähriger Präsident des Deutschen Tischtennis-Bundes (DTTB) sowie des Weltverbandes ITTF verfügt Weikert über reichlich Erfahrung im Funktionärswesen. Der Anwalt aus Limburg will zudem auch seine Berufserfahrung mit ins Amt einfließen lassen, denn seine Arbeit sei auch dort meist auf Kompromisse ausgerichtet: „Ich mache Familienrecht, wenn man keine Lösung beim Unterhalt findet, sind die Kinder verhungert." Und er könne von sich behaupten, „ganz passable Lösungen" zu finden.
Ein wichtiger Punkt auf seiner Agenda ist ein deutlich besseres Verhältnis zum Verein Athleten Deutschland, der mit Noch-Amtsinhaber Hörmann immer wieder aneinandergeraten war. Er wolle sich „an einen Tisch setzen und Konzepte vorstellen und sich als Partner verstehen, nicht als Gegeneinander", sagte Weikert im „SID"-Interview. Für ihn sei „Vertrauen das Allerwichtigste".
Der 60-Jährige hat sich zudem die Olympia-Bewerbung als ein großes Wahlkampfthema ausgesucht. In nahezu allen Interviews stellte er klar: „Paralympische Spiele, Olympische Spiele sollen möglichst bald nach Deutschland kommen." Natürlich weiß auch Weikert um die historische Bedeutung einer deutschen Bewerbung für die Sommerspiele 2036 exakt 100 Jahre nach den Nazispielen von Berlin. Doch Weikert sieht das Datum auch als Chance: „Das Bild der Deutschen muss man gut darstellen und genau daran arbeiten, dass wir uns gut darstellen im Ausland." Quasi als eine Art Vorlauf plädiert er zudem für eine Bewerbung für die Winterspiele 2030, um die späteren Chancen zu erhöhen.
Weikert gilt als angenehmer und uneitler Funktionär, der bei all seinen Entscheidungen tatsächlich das Wohl des Sports im Auge zu haben scheint. Der Unterstützung der meisten Spitzenverbände dürfte er sicher sein, einzig seine Präsenz unmittelbar vor der Wahl könnte zu einem Problem werden: Weikert weilte in den USA, um beim ITTF-Kongress in Houston seinen Posten als Weltverbands-Präsident abzuwickeln und der parallel stattfindenden Tischtennis-WM beizuwohnen. Wahlkampf aus der Ferne ist im undurchsichtigen Funktionärswesen immer ungünstig.
Claudia Bokel
Sie geht als Außenseiterin ins Rennen. Die frühere Fecht-Weltmeisterin, die seit sechs Jahren den Deutschen Fechter-Bund (DFB) als Präsidentin führt, hatte bis zu ihrer eigenen Nominierung zum Unterstützerkreis von Weikert gezählt. Nun tritt sie gegen selbigen an – das muss sie den Mitgliedern glaubwürdig erklären. Auch Ingo Weiss, Präsident des Deutschen Basketball Bundes (DBB) und Sprecher der Spitzenverbände, zeigte sich nach eigener Aussage „verwundert". Er wisse jedoch, dass Bokel bei den Gesprächen mit der Findungskommission „eine exzellente Vorstellung" geboten und „überzeugt" habe. Zudem stehe sie „für einen Neuanfang".
Genau wie Weikert verfügt die 48-Jährige über reichlich Erfahrung auf sportpolitischer Ebene, sie war acht Jahre Mitglied im Internationalen Olympischen Komitee (IOC) und fungierte dort ab 2012 als Vorsitzende der Athletenkommission. In dieser Funktion machte sie Schlagzeilen, als sie sich gegen die offizielle IOC-Haltung zum Doping-Skandal in Russland stellte. Ihr internationales Netzwerk dürfte sogar noch größer sein als Weikerts, und viele Athleten dürften ihr ihre Stimmen geben. Dieses Kontingent ist allerdings nicht besonders groß.
Die Wahl Bokels zur neuen Präsidentin wäre eine Zäsur, weder beim Deutschen Sportbund (DSB) noch dem Nationalen Olympischen Komitee (NOK) oder dem 2006 aus beiden Organisationen fusionierten DOSB stand jemals eine Frau an der Spitze. Intern kommuniziert die Chemikerin, die auch Ehrenprofessorin der Sports-Academy Belgrad ist, viel. In den Medien war jedoch zunächst nur wenig zu erfahren, was genau sie im Falle einer Wahl ändern würde. Und was macht Hörmann? Der aus dem Amt scheidende DOSB-Präsident muss befürchten, bei der Mitgliederversammlung nicht entlastet zu werden.
„Kultur der Angst"
Denn dieser Punkt steht ebenfalls auf der Tagesordnung. Hörmann hatte im Juni seinen Rückzug von der Spitze des Sportverbandes angekündigt, nachdem die Ethikkommission Vorwürfen nachgegangen war, die in einem anonymen Schreiben von Mitarbeitern verfasst wurden. In der Verbandszentrale in Frankfurt/Main herrsche „eine Kultur der Angst" – so lautete der Hauptvorwurf. Hörmann bestritt dies vehement, sein anschließendes Handeln offenbarte aber genau das: Der Allgäuer und DOSB-Spitzenvertreter bedrängten allem Anschein nach ein ehemaliges Vorstandsmitglied, sich als alleinige Autorin des anonymen Briefes zu bekennen.
Dabei schreckten sie ganz offensichtlich auch vor einem Gutachten eines Sprachsachverständigen und vor der Androhung juristischer Mittel nicht zurück. Die Sache wurde publik, der Aufschrei war groß – und Vorstandsvorsitzende Rücker sah sich zum Rückzug gezwungen.
Schlagzeilen wie diese sollen künftig der Vergangenheit angehören – das ist zumindest die zentrale Forderung aus dem Sportlerkreis. „Der Mittelpunkt ist nicht der DOSB selber, sondern die Athleten und Athletinnen und Trainer und Trainerinnen", sagte die neue Athletensprecherin Karla Borger. Die Beachvolleyballerin forderte von der neuen Präsidentin oder dem neuen Präsidenten, „auf jeden Fall das Vertrauen zurückzugewinnen". Und zwar nicht über Worte: „Das erfolgt natürlich über Taten."
Ähnliches forderte auch Wulff, der eingetaucht in das Sport-Funktionärswesen keinen besonders guten Eindruck bekommen zu haben scheint. „Man hat oft den Eindruck, es geht erst mal ums Geld und erst mal um die öffentliche Wirkung und die Eitelkeit", sagte er. Dass das auf politischer Ebene oft nicht anders ist, verschwieg Wulff geflissentlich. Am Ende ist Sportpolitik eben auch „nur" Politik.