Sie sprechen in der Öffentlichkeit nicht gerne darüber, aber es ist für alle offensichtlich: Die Doppelbelastung kostet Union Berlin aktuell Punkte. Der Wille ist da, die volle Kraft nicht mehr.
Die rund 600 mitgereisten Union-Fans wollten das Sammy Ofer Stadium von Haifa gar nicht mehr verlassen. Noch viele Minuten nach dem Abpfiff des 1:0-Sieges in der Conference League bei Maccabi, mit dem sich die Berliner ein „Endspiel" für die Zwischenrunde am letzten Vorrundenspieltag erkämpft hatten, feierten die Anhänger die Spieler, den Klub und sich selbst. Zu hören war auch ein neues Fan-Lied, das Hit-Potenzial besitzt. „Union spielt in Europa, die Hertha liegt im Bett", sangen die Fans lautstark zur Melodie des Liedes „For he’s a jolly good fellow".
Er habe es im Stadion zwar nicht gehört, konnte darüber aber einen Tag später „in der Zeitung lesen", verriet Union-Trainer Urs Fischer. Schmunzelnd ergänzte der Schweizer: „Das sind doch ganz normale Lieder in der Fanszene, da geht es auch mal darum, sich zu necken. Von daher passt das doch." Am vergangenen Wochenende hatten die Hertha-Fans aber Grund zur Schadenfreude, denn Union verspielte beim 1:2 bei Eintracht Frankfurt in allerletzter Sekunde einen fast schon sicher geglaubten Punkt. Dass die Doppelbelastung daran einen Anteil hatte, wollten die Protagonisten auch gar nicht bestreiten.
„Wir haben ziemlich intensive Wochen hinter uns, das schlaucht schon", gab Mittelfeld-Abräumer Rani Khedira zu: „Natürlich wollten wir mehr, aber manchmal muss man die Dinge so akzeptieren, wie sie laufen." Auch Grischa Prömel spürte den Verschleiß nach vielen englischen Wochen: „Das geht natürlich nicht spurlos an einem vorbei." Für alle im Team sei „so eine Reiserei unter der Woche neu" – vor allem, wenn die Rückreise, wie aus Israel, mehr als zehn Stunden dauert. „Aber das soll keine Ausrede sein", betonte Prömel, „wir sind alle fit genug, um neunzig Minuten zu powern."
Aber ist das wirklich so? Die Unioner wirkten vor allem in der ersten Halbzeit ungewohnt kraftlos und höchst unkonzentriert. Die Reisestrapazen schienen den Profis körperlich und mental zu schaffen zu machen. Zum dritten Mal in der Saison hatte Union nach einem Europacup-Auswärtsspiel anschließend auch in der Bundesliga auswärts antreten müssen. Gegner Frankfurt war unter der Woche zwar auch in der Europa League vertreten – allerdings mit einem Heimspiel. „Ich glaube nicht, dass es daran gelegen hat", meinte Union-Trainer Fischer. Die Frankfurter seien an diesem Tag einfach „in allen Belangen besser" gewesen.
Genau wie der Trainer wollte auch Prömel nicht zu sehr jammern, der Mittelfeldspieler schaute lieber nach vorne. Die normale Trainingswoche ohne Reiserei wollte das Team zur bestmöglichen Regeneration und Vorbereitung nutzen. „Das müssen wir abhaken", sagte Prömel: „Am Wochenende kommt Leipzig, da haben wir wieder die Chance, zu punkten". Im Heimspiel in der Alten Försterei am Freitag (3. Dezember, um 20.30 Uhr) gegen RB ist Union zwar Außenseiter – aber keineswegs chancenlos. Der Vizemeister ist arg coronagebeutelt, bei dem jüngsten 1:3 gegen Bayer Leverkusen fehlten ihm neben Trainer Jesse Marsch auch fünf Profis, die sich alle in Quarantäne befanden. Und RB liegt aktuell in der Tabelle zwei Punkte hinter Union zurück.
In dem Duell werden auch Erinnerungen wach: Beim bislang letzten Aufeinandertreffen mit den Sachsen im vergangenen Mai machte Union am finalen Spieltag der Saison 2020/21 mit einem famosen 2:1-Sieg den Einzug in die Conference League perfekt. Doch daran denkt Fischer nicht mehr zurück, er grübelt nur über den Matchplan für das neue Duell. Und der Schlüssel zum Erfolg gegen die spielstarken Leipziger lautet: Umschaltmomente.
„Wir wollten dieses Endspiel!"
Die spielten die Unioner gegen die Eintracht überhaupt nicht gut aus. „Wenn du im Umschaltspiel nicht präzise bist, wird es nicht gefährlich", meckerte Fischer, der in Frankfurt speziell in der ersten Halbzeit auch mit anderen Dingen nicht einverstanden gewesen war. „Wir kamen nicht in die Zweikämpfe, waren immer einen Schritt zu spät, und auch mit dem Ball hatten wir keine Ruhe und waren viel zu ungenau", zählte Fischer im TV-Interview einen Kritikpunkt nach dem anderen auf.
Dasselbe hatte er zuvor seinen Spielern auch in der Halbzeitansprache erzählt. Wieder einmal hatte es eine Standpauke und eine Systemumstellung gebraucht, damit Union aufwacht und sich zurück ins Spiel kämpft. Nach dem Ausgleichstreffer durch Max Kruse mit einem verwandelten Foulelfmeter – sein zweites Saisontor – sah es auch zunächst so aus, als könnte sich Berlin für die Leistungssteigerung im zweiten Durchgang belohnen. Doch immer geht so etwas nicht gut. In der fünften Minute der Nachspielzeit köpfte Evan N‘Dicka die Eintracht zum ersten Heimsieg in der Saison.
„Wir sind mit breiter Brust angereist und wollten die Woche mit Punkten aus Frankfurt vergolden", berichtete Prömel: „Wenn man dann in letzter Sekunde ein Gegentor kassiert, ist das natürlich bitter." Auch Khedira tat der Last-Second-Schock „unglaublich weh". Die in die hessische Metropole mitgereisten Fans bauten ihre Lieblinge jedoch mit Applaus und Sprechchören wieder auf. Die Anhänger sind sichtlich stolz auf das, was der Aufsteiger von 2019 bislang abgeliefert hat.
International haben sich die Eisernen durch den schmeichelhaften Erfolg in Haifa sogar ein „Endspiel" erarbeitet. Beim letzten Gruppenspiel am 9. Dezember im Berliner Olympiastadion gegen Slavia Prag kann Union den tschechischen Club mit einem Sieg noch vom zweiten Tabellenplatz verdrängen. Damit verbunden wäre der Einzug in die Zwischenrunde der Conference League – und damit mindestens zwei weitere Europapokal-Nächte.
„Wir wollten dieses Endspiel – und jetzt haben wir es", sagte Max Kruse zufrieden. Dass er einst ein großer Skeptiker des Wettbewerbs war und das auch öffentlich kundgetan hat – vergessen! Kruse und Co. leben die Conference League, die für manch andere Bundesligisten eine gefühlte Strafe gewesen wäre. Dieses Gefühl wird auch von den Fans getragen, die in Haifa erneut eine Gänsehaut-Stimmung verbreiteten. „Einfach überragend" sei die Unterstützung, meinte Innenverteidiger Marvin Friedrich: „Egal, wo wir spielen – es sind immer Fans dabei und es macht immer Spaß."
Im Vorfeld des Gastspiels in Israel hatte eine Delegation des Bundesligisten um Präsident Dirk Zingler die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem besucht. Es kam zu einem geführten Rundgang, dem auch eine Vertreterin der israelischen Botschaft in Berlin beiwohnte. Zum Abschluss wurden Kränze niedergelegt. Dem Club sei es „ein tiefes Bedürfnis" gewesen, teilte Zingler mit, die Riese nach Israel „für den Besuch dieses besonderen Ortes zu nutzen". Er persönlich sei „sehr dankbar" für diese Möglichkeit, ergänzte der Union-Boss. Er erinnerte zudem daran, „dass der Fußball mit seiner kulturellen Vielfalt als Vorbild dienen kann, um für Toleranz zu werben und jeder Form von Menschenfeindlichkeit und Diskriminierung entgegenzutreten."
Im Hinspiel Ende September war es zu antisemitischen Vorfällen gekommen. Beteiligt waren einige wenige Union-Anhänger, dennoch bekam der Club von der Uefa einen Zuschauer-Teilausschluss als Strafe aufgebrummt. Die Berliner akzeptierten die Sanktion und verurteilten das Fehlverhalten der absoluten Minderheit scharf.