Hermann Gerland ist im Sommer vom FC Bayern München zum Deutschen Fußball-Bund gewechselt. Jetzt kritisiert der 67-Jährige die Jugendarbeit in Deutschland – und auch die des FCB. Dabei geht es nicht nur um fehlende Stürmer.
Eine Diskussion, die den deutschen Fußball nun schon seit dem Karriereende von Miroslav Klose begleitet, ist die über die fehlenden typischen Stürmer im deutschen Fußball. Dazu wurde in etlichen Talkshows schon genügend gesagt. Mit Lukas Nmecha, der beim VfL Wolfsburg in der Bundesliga nun dabei ist, sich zu etablieren, rückt zumindest ein langersehntes und hoffnungsvolles Talent in den Vordergrund.
Gerland legt den Finger in die Wunde
Hermann Gerland kennt sich mit Talenten im deutschen Fußball nach 20 Jahren beim deutschen Rekordmeister Bayern München bestens aus. Insgesamt war der „Tiger" ein Vierteljahrhundert beim deutschen Rekordmeister in verschiedenen Positionen beschäftigt. Von August bis September 2021 war Gerland wenige Wochen beim DFB als Scout tätig. Im September 2021 wurde er dann Co-Trainer von Antonio Di Salvo, dem neuen Chefcoach der U21-Nationalmannschaft. Beim FC Bayern war Gerland zwischen 2016 und 2017 zusammen mit Jochen Sauer für die Leitung des FC Bayern Campus zuständig und hat auch viele Jahre davor die Nachwuchsarbeit an der Säbener Straße und im Nachwuchsleistungszentrum mit verantwortet. Dennoch hat der 67-Jährige nun nach der 0:4-Niederlage der U21 gegen Polen die Jugendarbeit in Deutschland analysiert und auch die Arbeit in seinem Ex-Club kritisiert: „Ich denke, dass wir da an verschiedenen Stellschrauben drehen müssen. Wir müssen sehr früh das Eins-gegen-eins und Zweikämpfe schulen, wir müssen den Ball in den Vordergrund stellen. Wir müssen ein Training gestalten, das den Kindern Spaß macht und dass sie sich darauf freuen. Das ist die Aufgabe im Nachwuchs", wurde Gerland in einem Interview mit dem „Kicker" zitiert.
Selbst vor seiner großen Liebe und seinem alten Arbeitgeber macht Gerland nicht halt: „Wenn man in den Akademien mal kontrolliert, etwa die U19 des FC Bayern hat 29 Spieler im Kader. Das heißt: Wechselt der Trainer nicht aus und alle sind gesund, schauen 18 zu. Das ist ein Unding! Die jungen Leute müssen Fußball spielen. Auch im Training. Immer spielen." Gerland will schon bei den ganz kleinen Stars von morgen ansetzen: „Im Kindesalter müssen wir ran. Mit kleinen Spielformen, drei gegen drei, damit die Kinder viele Ballkontakte haben. Wir haben früher als Kinder in den Ferien acht Stunden gespielt." Und Gerland ließ damit nicht locker: „Als ich beim FC Bayern anfing, haben wir gerade in den Ferien zweimal am Tag trainiert. Da war keiner verletzt. Heute hört man nichts mehr von Adaption und Superkompensation, heute höre ich nur noch von Systemen und von Belastungssteuerung. Die gab es damals nicht. Übung macht den Meister, das war vor 50 Jahren so, ist heute so und in 50 Jahren auch noch. Früher haben wir elf gegen elf gespielt, heute spielen wir 3-4-3, 4-4-2, 4-1-4-1, 5-4-1 und noch zwei, drei andere Systeme. Im Nachwuchsbereich müssen wir die Inhalte anders gestalten." Gerland ist jemand, der sich solche Äußerungen durchaus erlauben darf. Gerland war unter anderem an der Entdeckung des früheren DFB-Kapitäns Philipp Lahm beteiligt. Er habe früh gespürt, über welches Talent dieser Spieler verfüge. „Philipp Lahm war der beste Spieler. Er hat mich so begeistert. Aber keiner wollte ihn verpflichten, er sah aus wie 15. Meine Frau hat mich gefragt, ob ich mich vielleicht diesmal vertue. Da habe ich gesagt: ,Ich werde Volleyballspieler, wenn das kein Super-Spieler wird.‘ Ich habe ihn Felix Magath in Stuttgart empfohlen – drei Monate später war Lahm der beste Spieler gegen Manchester United." Auch Bastian Schweinsteiger wurde vom „Tiger" geprägt. „Ich kam mal mit schwarzgefärbten Haaren zum Training, da sagte er nur, dass ich so lange Runden laufen muss, bis sie wieder ihre natürliche Farbe haben", erzählt Schweinsteiger in der neuen Bayern-Doku auf Amazon Prime.
Begeistert von Philipp Lahm
Mit das Wichtigste für Hermann Gerland ist die richtige Schulung des Eins-gegen-Eins. „Wenn ich sehe, wie stark wir früher in der Abwehr waren, heute arbeiten wir immer im Verbund. Trotzdem ist es deutlich besser, wenn ein Spieler eine Lösung im Eins-gegen-Eins hat. Auch in der Offensive. Wir müssen den Spielern beibringen, zu dribbeln, aber wenn ich nur immer fordere, pass, pass, pass und jedes Spiel nur mit zwei Kontakten mache, dann kann ich keinen Dribbler entwickeln." Einen Lösungsvorschlag hat er auch parat: „Wenn ich denen helfen will, muss ich sagen: dribbel, dribbel, dribbel! Und wenn er den Ball verliert, gleich noch mal. Dann können sie mit 19 auch dribbeln. Aber wenn sie bis 17 nur gepasst haben, können sie mit 19 nicht dribbeln. Und: Im Nachwuchsbereich steht die Ausbildung der Spieler im Vordergrund und nicht der Erfolg der Mannschaft." Das ist jedoch ein Problem, das sich der DFB selbst ins Haus geholt hat. Stichworte Trainerausbildung sowie fast schon Hungerlöhne in den Nachwuchsleistungszentren. Nicht jeder junge Trainer kann es sich erlauben, für wenig Geld Spieler auszubilden, schon gar nicht, wenn bei Erfolg ein interner Aufstieg und dann auch das große Geld winken kann.
Dass Hermann Gerland dem Fußball auch mit 67 Jahren erhalten bleibt, hat einen einfachen Grund: „Mir macht es einfach Spaß, jungen Menschen etwas beizubringen. Und wenn ein Spieler hinterher kundtut, dass er was gelernt hat, ist das für mich etwas ganz Schönes. Ich habe dem Fußball so viel zu verdanken, deswegen will ich mein Wissen nicht einfach wegwerfen, sondern es mitteilen und weitergeben." Weitergeben an junge Menschen, die viel mehr Ablenkungen widerstehen müssen als er damals musste: „Die Kinder von heute haben viel mehr Ablenkungsmöglichkeiten als wir es früher hatten. Diese ganzen komischen Spiele, Playstation und so weiter, das gab es früher gar nicht. Wir hatten einen Ball. Und wenn derjenige, der den Ball hatte, im Urlaub oder krank war, dann waren wir aufgeschmissen. In den Ferien haben wir jeden Tag acht Stunden gespielt."
Dem Fußball viel zu verdanken
Während Gerland Einblicke in die Fehler der Jugendarbeit in Deutschland gab, hatte er auch noch Zeit für eine Anekdote, die schon einige Jahre zurücklag: „In Bielefeld habe ich Morddrohungen erhalten. Das ist ja nicht so schlimm. Ich war gerade dabei, ins Bett zu gehen. Auf einmal kam ein komischer Anruf. Da will mich einer umlegen, hat er gesagt. Ich habe gesagt: ,Ich komm runter, in einer Stunde, Adenauer Straße 95, ich warte. Wenn du eine Waffe hast, sieh zu, dass der erste Schuss trifft. Wenn nicht, dann wird‘s schwierig für dich. Wenn du ohne Waffe kommst, dann bring ein paar Leute mit, die dich nach Hause führen können. Aber es ist keiner gekommen." Sein Anrufer hat es letztendlich wohl doch mit der Angst zu tun bekommen. Ähnlich ging es auch Yousoufa Moukoko vor seinem ersten Gespräch mit dem „Tiger": „Ich hatte die Ehre, schon bei unserem ersten gemeinsamen U21-Lehrgang mit ihm zu sprechen. Allerdings habe ich vorher schon ein bisschen gezittert und mich erst nicht so recht getraut, ihn anzusprechen." Schließlich habe der 16-Jährige dann doch noch mit Gerland „ein längeres Gespräch geführt. Dabei hat er mir gleich extrem viele gute Tipps mit auf den Weg gegeben". Das Wort des langjährigen Co-Trainers der Bayern habe aufgrund seiner Erfahrung Gewicht. „Ich habe großen Respekt vor ihm, mittlerweile machen wir aber auch unsere Witze zusammen. Trotzdem warte ich häufig noch darauf, dass er zu mir kommt und mich anspricht, nicht umgekehrt", sagte Moukoko.
Wahrscheinlich ist es ein Glücksfall für den deutschen Fußball, dass Hermann Gerland seine Trainerkarriere noch nicht beendet hat und weiterhin sein Wissen an junge Spieler, aber auch an Trainerkollegen weitergibt. Um die angesprochenen Probleme zu lösen, sind jedoch weitreichende Entscheidungen nötig – und auch der DFB ist dabei gefordert. Mit der neuen Jugendspielreform will der DFB genau so etwas anstoßen. Einige Kritiker haben dabei aber einen nachvollziehbaren Punkt: Wie sollen Jugendspieler lernen, zu gewinnen und Titel zu erringen, wenn es darum im Jugendfußball nicht mehr geht? Heißt also: Wie soll ein Jugendspieler, der nicht gewinnen muss, später mit dem Druck des Profifußballs klar kommen?