Psychische Erkrankungen sind ein unangenehmes Gesprächsthema. Die einen schweigen aus Unverständnis, die anderen aus Scham. Die Pandemie hat die unsichtbaren Krankheiten sichtbarer gemacht, dabei gab es sie davor schon.
Dem eigenen Gedankenkarussell nicht mehr entkommen können, in Momenten, in denen man früher Freude gespürt hat, jetzt nur noch innere Leere empfinden. So oder so ähnlich fühlt sich für viele Menschen eine Depression an.
„Lass uns von was anderem reden …"
„Ja, ja, dein Bein steht in Flammen, aber ständig darüber zu reden, hilft auch nicht, oder?" Dies ist nur ein Beispiel aus Matt Haigs preisgekröntem Sachbuch „Ziemlich gute Gründe, am Leben zu bleiben", das illustriert, was Leute zu Depressiven sagen – was sie in anderen lebensbedrohlichen Situationen niemals sagen würden. Dabei ist Depression die tödlichste Krankheit auf unserem Planeten. Tödlicher als Magen-, Darm-und Brustkrebs oder Leberzirrhose. Sie übertrifft als Todesursache Krieg, Terrorismus, häusliche Gewalt und andere gewaltsame Übergriffe. Warum werden Themen rund um psychische Krankheiten immer noch weitestgehend an die Ränder der öffentlichen Diskussion geschoben, wenn so viele Menschen von ihnen betroffen sind?
Es gab vor allem in Bezug auf Corona und die Auswirkungen der Regierungsmaßnahmen auf die psychische Gesundheit genug Anlass, Beiträge über Depressionen in den öffentlich-rechtlichen Medien zu senden. Doch dies ist nur eine Seite der Debatte, die in einer weiteren Dimension über „Verlierer" geführt wird. Von der „Generation Corona" spricht man über jene Jugendliche, die pandemiebedingt ein bis zwei Jahre Rückstand auf dem Ausbildungsmarkt haben. „Durch die aktuellen Bildungsverluste kann man davon ausgehen, dass bei vielen der Erfolg am Arbeitsmarkt geringer sein wird oder sogar ausbleibt", so die Nürnberger Volkswirtin und Professorin Veronika Grimm in einem ZDF-Interview. Damit kommen wir direkt auf den Widerspruch, der das Tabuisieren begünstigt: „Leistungsgesellschaft und Marktwirtschaft versus psychische Unversehrtheit".
Selbstbezichtigung und mangelnde Akzeptanz
Einen Grund für das Tabuisieren von psychischen Krankheiten sieht der Psychologe Wolfgang Schmidbauer in der „Selbst-Kannibalisierung" der modernen Arbeits- und mediatisierten Vergleichswelt. In seinem Buch „Raubbau an der Seele – Psychogramm einer überforderten Gesellschaft" bezeichnet er den „Burn-out" (Erschöpfungsdepression) als Resultat einer manischen Abwehr gegen das eigene Versagen. Und als Versager kann man sich durch den permanenten sozialen Vergleich und die Zurschaustellung von glücksverheißenden Momenten auf den sozialen Netzwerken schnell fühlen. Jede Krankheit wird von den Erfolgsjunkies als „Fehler" enkodiert, aber vor allem psychische Krankheiten. Sie haben gegenüber den körperlichen Krankheiten einen gravierenden Nachteil: Man sieht sie nicht. Darüber hinaus werden sie noch mehr als andere Krankheiten in die Ecke der Selbstverschuldung gedrängt. Durch das unsichtbare Wesen von Depressionen, Neurosen und Psychosen fühlen sich Betroffene isoliert. Die Eigenwahrnehmung Betroffener, die Schamgefühle produziert, sorgt für weitgreifende Fehlannahmen und Verzerrungen in der Eigenperspektive gegenüber der des Kollektivs. „Nur ich fühle, was andere nicht nachvollziehen können", so die kurzgefasste Denkweise eines Depressiven, der durch die Brille der Volkskrankheit des 21. Jahrhunderts schaut. Hingegen würden typische Patienten, die eine Chemotherapie durchmachen, sich als weniger einzigartig in der Erfahrung ihrer Symptome betrachten und schon gar nicht als Verursacher ihrer Krankheit. Die Selbstbezichtigung, psychische Symptome kämen nur durch ein eigenes mentales Missmanagement zustande, sind zentral im Denken Betroffener, was ihnen fatalerweise durch den Wertekanon „der anderen" gespiegelt wird.
Das Problem mit der Leistungsgesellschaft
In Verbindung mit Burn-out, als Folge chronischer Überlastung, wurde das Thema psychischer Erkrankungen vor zwölf Jahren in den Medien hochgespült, bis zu einem Grad, dass man vonseiten der „Decisionmaker" die typische Relativierung erfuhr, Erschöpfungsdepressionen seien eine Modeerscheinung. Ein Trend, der allerdings zum Problem wird, wenn 35 Prozent der Arbeitenden durch psychische Krankheiten frühverrentet werden oder sich die Ausfälle wegen längerfristiger Krankmeldungen häufen. Die Bundesärztekammer spricht von Depressionen als dem zweitgrößten arbeitsbedingten Gesundheitsproblem, von dem – Stand 2020 – circa 41 Millionen Menschen in der EU betroffen sind. Der neuralgische Punkt von Abwehr steckt schon in der Konstruktion des Begriffs Leistungsgesellschaft. Psychische Krankheiten werden als „Alibi" für Leistungsverweigerer bezeichnet, von denen, die im Wachstum und in der Durchökonomisierung aller Lebensbereiche keine Gefahr sehen, sondern die konstante Zurschaustellung von Erfolg als begrüßenswert erachten. Die Architekten und Gewinner des „Feudalkapitalismus" profitieren geradezu von der Selbstausbeutung der „24/7-on"-Generation des Internets, in der man vor allem sich selbst als Erfolgsstory präsentiert.
Scham und soziale Schande
Der renommierte Psychiater und Psychotherapeut Daniel Hell begreift Scham als Warn- und Schutzfunktion, wenn das Selbst in Gefahr gerät, „ein Mechanismus, der auf verborgene Weise den menschlichen Austausch regelt". Nur, wer sich selbst achtet, ist dazu fähig, sich zu schämen, so die positive Botschaft über ein Gefühl, das Menschen als negativ erfahren. Insofern, als dass Scham und psychische Erkrankungen eine Symbiose bilden, leiden Kranke unter einer doppelten Belastung.
Hell sieht in dem Phänomen der öffentlichen Zurschaustellung von psychischen Krankheiten durch Promis keine Trendwende oder gar einen Gegenbeweis dazu. Im Gegenteil spielt es der Stigmatisierung von Betroffenen in die Hände. Wenn Genussfähigkeit und Wohlbefinden als das einzig Wünschenswerte proklamiert wird, ist es für psychisch Kranke beschämend, „wenn aus ihrem leidvollen Kampf um größere Akzeptanz ein Feldzug für das „Happytum" gemacht wird". Wird das Problem als „Hirnstörung" umetikettiert, lautet die doppelte Botschaft: „Du solltest dich deiner Krankheit schämen, aber das kannst du nicht, weil du ja hirnkrank bist." Man kann die Scham nicht von der Depression als krankmachenden Faktor trennen, um aus ihm Rückschlüsse zu ziehen, inwieweit er die Krankheit bedingt. Frühe Studien des englischen Epidemiologen George W. Brown haben nachgewiesen, dass Kränkungen und Bloßstellungen zu den wichtigsten Stressoren zählen, die zu Depressionen beitragen. Dagegen stehen klinische Erfahrungen – wo Scham nur eines von vielen Problemen ist – dass narzisstische Verletzungen (zum Beispiel Bodyshaming), der schmerzhafte Verlust von Angehörigen oder der Arbeitsstelle auslösende Faktoren sind. Auch eine körperliche Erkrankung, die oft als Erniedrigung des Selbstwertgefühls erfahren wird, zählt zu den auslösenden Faktoren. Die Diskrepanz zwischen den eigenen Erwartungen und den Wertvorstellungen und übernommenen Normen wird immer wieder auf die Probe gestellt. Ein Bruch zwischen den Werten lässt sich auch nicht aus der Welt schaffen. „Erst die Akzeptanz der Scham als Hinweis auf belastende eigene Wertvorstellungen kann oft eine Hilfe sein – indem sie dazu beiträgt, solch problematische Werte infrage zu stellen", so Daniel Hell.
Risse in der Fassade
Die Tabuisierung psychischer Krankheiten wird noch so lange fortwähren, als sich Gesellschaften schwertun, ihren Wertekanon einschneidend zu modifizieren. Wir erfahren die Diskussion um den Klimawandel als manische Abwehr gegen das eigene Versagen bezüglich einer Kurskorrektur, die man seit den 70er-Jahren hätte vornehmen müssen. Die progressiven Kräfte weisen stets darauf hin, dass es Zeit wird, zu einem anderen Gesellschaftsvertrag zu finden, als den, der konstantes Wachstum vorsieht. Je weiter das Zeitalter zunehmender kognitiver Dissonanzen (Spannungsgefühl, das aus unerwarteten Konsequenzen von falsch eingeschätzten Ereignissen resultiert) voranschreitet, desto seltener werden Themen wie psychische Krankheiten an den Rand gedrängt werden können. Die Risse, die quer durch unsere und andere Gesellschaften gehen, sind nicht mehr zu verbergen. Nicht nur Japan musste mit einem Ministerium für Einsamkeit der um 70 Prozent gestiegenen Suizidrate unter Frauen (erstmals seit elf Jahren, durch Corona ausgelöst) entgegensteuern. Als erstes Land weltweit hat Großbritannien ein Ministerium für Einsamkeit ins Leben gerufen. Seit 2018 koordiniert es die Versuche der Regierung, Menschen aus der Isolation und der Anonymität zu holen. Bei zunehmender Krisenstimmung wird es kaum ausbleiben, dass eine Tabuisierung von psychischen Krankheiten zukünftig schwerer wird, denn der Ausnahmezustand könnte zum Normalzustand werden, in dem sich kein Mensch mehr zu schämen braucht, wenn er oder sie sich in einem überkommenen Gesellschaftsvertrag nicht wiederfindet.