Der SC Magdeburg schickt sich an, die jahrelange Dominanz der Nord-Klubs aus Kiel und Flensburg zu brechen. Der Vater des Erfolgs ist ein Trainer, der den Siegeswillen in jeder Sekunde vorlebt.
Alfred Gislason will sich noch nicht definitiv festlegen, doch zwischen den Zeilen lässt er keinen Zweifel daran: Der kommende Meister in der Handball-Bundesliga wird SC Magdeburg heißen. „Ich kenne so einen Lauf, das ist unwahrscheinlich schön. Dann pusht sich eine Mannschaft fast von selbst", sagte der heutige Bundestrainer, der 2011/12 mit dem THW Kiel eine perfekte Saison ohne Punktverlust gespielt hatte. Und nicht nur das: Der Isländer saß auch beim bislang letzten Meistertitel der Magdeburger hauptverantwortlich auf der Trainerbank. 20 Jahre später schickt sich der SCM erneut an, den Handball-Thron zu erobern. Und Gislason sieht seinen Ex-Klub für diesen Coup mehr als gerüstet. Dort werde „überragende Arbeit geleistet, sagte er, „und mit jedem starken Gegner, den sie souverän schlagen, kriegen sie immer mehr das Gefühl, dass sie gar nicht verlieren können." Magdeburg schlug die SG Flensburg-Handewitt (33:28), triumphierte in Kiel (29:27) und trumpfte ganz groß im Topspiel bei Verfolger Füchse Berlin (33:29) auf.
Magdeburg sei derzeit einfach „das Maß aller Dinge", meinte Füchse-Sportvorstand Stefan Kretzschmar, der elf Jahre selbst für den SCM auf Torejagd gegangen war und dort auch zwei Jahre als Sportdirektor gearbeitet hat.
„Mannschaft pusht sich von selbst"
Die Grün-Roten sind aber nicht völlig sensationell an die Tabellenspitze gestolpert, sie haben sich in den vergangenen Jahren peu à peu an die Branchenführer aus Kiel und Flensburg herangekämpft. Und nach Platz drei in der VorsaisonPlatz scheint diesmal die Wachablösung bevorzustehen. Glaubt man Kretzschmar, dann hat sich die Nord-Dominanz ohnehin erledigt.
„Sechs, sieben Teams im Meisterkampf werden die Regel sein, nicht die Ausnahme. Den alleinigen Zweikampf Kiel gegen Flensburg wird es nicht mehr geben", sagte der frühere Weltklasse-Spieler der Sport-Bild. Das ist ganz im Sinne der HBL. „Für die Liga ist das alles super positiv", sagte Liga-Präsident Uwe Schwenker, und ein „Beleg für die Stärke und Ausgeglichenheit". Dieses Jahr hinken Kiel und Flensburg den Erwartungen aber überraschend weit hinterher, und Kretzschmar will bemerkt haben, dass den handelnden Personen dort „die Souveränität ein bisschen abhanden gekommen" sei.
Davon kann man in Magdeburg nicht sprechen, auch die unangenehme M-Frage bereitet den Verantwortlichen (noch) keine Probleme. Dass die Titelchance angesichts der eigenen Stärke und der schwächelnden Konkurrenz absolut realistisch ist, sei „jetzt nicht mehr wegzureden", sagte Trainer Bennet Wiegert: „Natürlich weckt das Erwartungen – auch bei uns." Für ihn selbst scheint das kein Problem zu sein. Wiegert behauptet, er würde unter Druck sogar noch besser funktionieren. „Ich persönlich brauche diesen Druck für meine Arbeit, für meinen täglichen Ehrgeiz", sagte der 39-Jährige und betonte: „Es würde mich nerven, wenn es nicht so wäre." Er sei deshalb „auch kein Fan davon, das wegzudrücken".
Mit „das" meinte der Trainer die riesige Titelchance. Der SC Magdeburg hat das Saisonziel längst nach oben korrigiert, ohne nach außen die ganz großen Töne zu spucken. Denn die Fallhöhe an der Spitze ist enorm, und die Leistungsdichte in der Bundesliga zu gefährlich. „Man muss jedes Mal auf den Punkt da sein", erklärte Wiegert, „und schafft man das nicht, verliert man Punkte." Dann wäre der zurzeit so komfortable Vorsprung schnell futsch. „Bis zu Platz fünf sind es nur zwei Bushaltestellen", sagte Wiegert: „Das muss uns einfach bewusst sein."
Doch für einen Einbruch des bislang so souverän aufspielenden Tabellenführers spricht kaum etwas. Das liegt vor allem an Wiegert selbst, der keine Selbstzufriedenheit oder gar Arroganz ob des sensationellen Saisonstarts zulässt. Ein Beispiel: Als die Magdeburger beim 31:26-Sieg beim Tabellenschlusslicht in Minden innerhalb von sechs Minuten einen Vier-Tore-Vorsprung verspielt hatten, rüttelte Wiegert im Time-out seine Spieler mit energischen Worten wach: „Gerade machen wir Bullshit. Wir quatschen die ganze Zeit, aber ohne Taten." Es folgte eine deutliche Leistungssteigerung und der erwartete Ausgang der Partie. Die Spieler zeigten sich hinterher einsichtig. „Wir sind nicht scharf genug aus der Halbzeitpause gekommen", meinte Kay Smits, „wir waren im Angriff nicht aggressiv, und defensiv haben wir zu einfache Tore bekommen."
Wiegert gilt als Top-Motivator
Wiegert gilt als herausragender Motivator mit einer feinen Antenne für die Befindlichkeiten seiner Spieler. „Oft ist es ein taktisches Mittel", erklärte Co-Trainer Grafenhorst einmal die klaren und sehr direkten Ansagen seines Chefs: „Er hat meist die Kontrolle darüber und reizt die Grenzen gern aus. Das Ziel ist es, Spieler oder Fans aufzuwecken." Wiegert lebt den Siegeswillen nach innen und nach außen vor, Niederlagen sind für ihn pures Stimmungs-Gift. Das hat er mit seinem Trainer-Idol gemein: Alfred Gislason. „Er war mein erster Trainer im Männerbereich", sagte Wiegert. Vom „Island-Vulkan", der seine Emotionen auch geschickt in seine Arbeit einfließen lässt, habe er sich am meisten abgeschaut: „Er ist mein Vorbild, Mentor und Freund."
Wiegert zeichnet sich durch Fleiß und Akribie aus. Er beschäftigt sich nahezu den ganzen Tag mit Handball, schneidet selbst Videos zusammen und seziert so Stärken und Schwächen jedes Gegners heraus. All das hat er schon als Jugendtrainer getan, die SCM-Youngster wurden unter seiner Regie schon im zweiten Jahr Drittliga-Meister. Als im Dezember 2015 der Trainerstuhl bei den Profis frei wurde, hievten ihn die Verantwortlichen trotz des großen Risikos ins Amt. „Einem so jungen Trainer zu vertrauen, war damals eine Gremienentscheidung gegen einige Widerstände", erinnerte sich Geschäftsführer Marc-Henrik Schmedt. Der neue Cheftrainer stabilisierte den Klub und führte ihn nach ganz oben.
Zudem macht ihm in Sachen Authentizität niemand etwas vor, keiner verkörpert den SCM so wie Bennet Wiegert. „Benno", wie er gerufen wird, ist in der Landeshauptstadt Sachsen-Anhalts geboren. Sein Vater Ingolf ist eine Klub-Ikone, er wurde mit dem SCM mehrfacher DDR-Meister und 1980 Olympiasieger. Über ihn kam Sohn Bennet zum Verein, mit dem er als Linksaußen und linker Rückraumspieler maximal erfolgreich war: Deutscher Meister 2021, Champions-League-Gewinner 2002. Die Trikots von Vater und Sohn hängen gemeinsam unter dem Hallendach – doch die Geschichte von Bennet Wiegert ist bei den Grün-Roten noch nicht zu Ende erzählt.
Der Titel soll her, das lange Warten in der Bördelandhalle soll endlich ein Ende haben. „Bleiben wir bitte demütig", sagte Wiegert zwar. Aber die Position an der Sonne gefällt ihm nur zu gut: „Demut kann man auch genießen." Dass alle Experten den SCM als neuen Meisterfavoriten auserkoren haben, sei in erster Linie ein „Erfolg für meine Mannschaft, die sich diesen Respekt erarbeitet hat." Aus dem individuell stark besetzten Team ragt ohne Zweifel Omar Ingi Magnusson heraus. Der Isländer, der im Vorjahr vom dänischen Meister Aalborg nach Magdeburg gewechselt war und auf Anhieb HBL-Torschützenkönig wurde, führt auch jetzt wieder die interne Rangliste an. Neben dem Ausnahmespieler reiften andere Profis zu Leistungsspielern heran, die bei absoluten Topclubs nicht unbedingt auf dem Zettel standen. Wiegert und Geschäftsführer Schmedt bewiesen ein gutes Auge und eine gute Hand bei der Kader-Zusammenstellung. „Die Personalunion aus Trainer und Sportchef funktioniert bei uns extrem gut", sagte Schmedt: „Benno arbeitet intensiv im Scouting, erkennt Potenziale." Und bei Spielern wie Magnusson oder auch Magnus Saugstrup und Gisli Kristjansson, um die der SCM stärker kämpfen musste, entfachte Wiegert mit seiner Begeisterungsfähigkeit das Feuer. Wie stark der Magdeburger Kader in der Breite besetzt ist, zeigt auch das Beispiel Kay Smits. Der Niederländer besitzt herausragende Qualitäten im rechten Rückraum, doch dort ist Magnusson gesetzt. Smits muss sich mit deutlich weniger Minuten begnügen – und übt Druck auf den Isländer aus. Die Folge: Beide stacheln sich zu Höchstleistungen an. Das hilft ihrer individuellen Entwicklung, das hilft aber vor allem dem Team.
Die Magdeburger durften gar einen prominenten Rückkehrer begrüßen: Matthias Musche stand in Minden nach einem Jahr mal wieder im Kader, was alle im Verein als freudiges Ereignis feierten, auch wenn der Linksaußen nicht zum Einsatz kam. Musche hat sich nach einer schweren Knieverletzung mit Kreuzband- und Innenbandriss sowie Meniskusschaden in einem langen Prozess wieder herangekämpft. Aber bei ihm ist Geduld gefragt. Kein Problem für das Team, denn Musches Vertreter Lukas Mertens ist einer der Shootingstars und hat inzwischen auch den Sprung in die Nationalmannschaft gepackt.
Die Magdeburger ließen sich von einem Corona-Ausbruch in der Woche vor dem Spiel in Minden nicht aus dem Konzept bringen. „Es war nicht optimal, aber es gehört leider dazu", meinte Smits. Magnusson und Moritz Preuss fehlten wegen eines positiven Tests, doch andere betroffene Spieler konnten sich rechtzeitig erfolgreich aus der Quarantäne testen. Ausfälle oder auch schwächere Phasen in einem Spiel schrecken die Magdeburger nicht, die Siegesserie hat ein Gefühl der Unbezwingbarkeit ausgelöst. „Wir haben ganz viel Vertrauen in uns als Mannschaft", sagte Smits. Doch diese Zeit wird enden, so Wiegert: „Es wird Niederlagen geben." Das an sich sei kein großes Problem, entscheidend sei der Umgang mit diesen Rückschlägen. Dann ist der Trainer erst richtig gefragt. Die SCM-Verantwortlichen hegen aber keine Zweifel, dass Wiegert auch in einer kritischen Phase richtige Worte findet und richtige Maßnahmen trifft. „Benno ist auf dem Weg, einer der begehrtesten und besten Trainer der Welt zu werden", sagte Geschäftsführer Schmedt.