Lyrik, viele Wünsche und sehr dehnbar – der Politikwissenschaftler Prof. Jürgen W. Falter von der Uni Mainz hat den Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und FDP für FORUM gelesen und analysiert. Er sei gemacht für eine Schönwetterperiode, die Frage bleibe, ob er ernste Krisen übersteht.
Herr Falter, wie ist Ihr Eindruck, wenn Sie den Koalitionsvertrag mit dem der Vorgängerregierung vergleichen?
Neben der üblichen Lyrik von Fortschritt, Aufbruch, Integration und Zusammenhalt zeichnen sich Koalitionsverträge vor allem durch drei Formulierungstypen aus. Sie heißen: wir werden, wir wollen und wir prüfen. „Wir werden" bezieht sich auf konkrete Vorhaben, „wir wollen" im Allgemeinen auf Wünsche, die man zwar gerne verwirklichen will, bei denen man aber skeptisch ist, ob sie sich tatsächlich auch realisieren lassen, und „wir prüfen" bezieht sich auf Vorhaben, die üblicherweise auf die lange Bank oder auf den Sankt Nimmerleinstag geschoben werden. Der Koalitionsvertrag der Ampel ist im Vergleich zu seinem Große-Koalitions-Vorgänger von 2018 in manchem konkreter, das heißt er enthält mehr „Werden" und weniger „Wollen" und „Prüfen". Das gilt allerdings für eine entscheidende Sache nicht, nämlich die Frage der Finanzierung der zum Teil sehr kostspieligen Vorhaben der Ampel-Koalition.
Hat der Vertrag ein gemeinsames Narrativ?
Den Vertrag durchweht der Wille zum Aufbruch und der Glaube an den Fortschritt. Zugleich ist er ein Dokument der unbedingten Kompromisswilligkeit. Gemeinsames Narrativ ist die Absicht, Staat, Politik, Verwaltung und Gesellschaft zu modernisieren, was durch Planungsvereinfachung, Digitalisierung, eine Beschleunigung der Energiewende und eine Verlagerung der Verkehrsinfrastruktur von der Straße auf die Schiene manifestiert werden soll.
Hat sich eine der drei Parteien durchgesetzt?
Durchgesetzt haben sich alle drei Parteien, jede auf ihre Art, jede mit ihren Hobbys oder Schwerpunkten. Dabei sind die von der FDP durchgesetzten Leitlinien zum Teil recht vordergründig, nämlich dann, wenn die strikte Einhaltung der Verschuldungsgrenze durch Nebenhaushalte auf dem Umweg über Investitionsgesellschaften, die KfW und so weiter unterlaufen wird.
Wie dehnbar sind die einzelnen Punkte?
Dehnbar ist etwa die Absicht, bis 2030 aus der Kohleverstromung auszusteigen, da heißt es „idealerweise", es ist also eine durchaus ernst gemeinte Absicht, die aber krachend an der Realität scheitern kann. Dehnbar ist auch der Verzicht auf Steuererhöhungen und die Einhaltung der Verschuldungsgrenze. Höhere Abgaben und Gebühren wirken für den Geldbeutel des einzelnen wie höhere Steuern, und solche Abgaben- und Gebührenerhöhungen wird es in den nächsten vier Jahren bei einigen Posten auf der nationalen und mit Sicherheit auf der kommunalen Ebene geben. Ersteres etwa, was die Altersversorgung von Selbstständigen betrifft, letzteres was örtliche Gebühren, Grundsteuer et cetera betrifft.
Offen uneinig war man sich zuvor bei Themen wie mehr Schulden (also mehr Finanzmittel), höhere Verteidigungsausgaben, Außenpolitik. Wie wurde das aufgefangen?
Mehr Schulden möchte man nicht machen, das ist eine Konzession an die FDP, höhere Ausgaben will man aber durchaus tätigen, und die sind auch nötig, um die klimapolitischen Vorhaben zu finanzieren. Ich erwarte, dass das durch indirekte Kreditaufnahme etwa über Investitionsgesellschaften, die KfW und so weiter erfolgen wird. Bei den Verteidigungsausgaben hat man eine hübsche Formel gefunden, die eine Steigerung auf drei Prozent des Bruttosozialproduktes vorsieht, wobei allerdings darin Entwicklungshilfe und allerlei sonstige Ausgaben im Rahmen internationaler Verpflichtungen mit enthalten sind, sodass unklar ist, ob es wirklich zu einer Steigerung der reinen Verteidigungsausgaben auf 2,5 Prozent des Bruttosozialproduktes kommen wird. Ich bin da eher skeptisch. Sowohl der linke Flügel der SPD als auch der Grünen wird das verhindern wollen.
Lust auf Neues, der lernende Staat, Bürgerräte, digitaler Aufbruch – der Vertrag enthält viele neue Begriffe. Sind die auch mit Inhalt gefüllt?
Das ist zunächst einmal Lyrik, insbesondere der Begriff des lernenden Staates, aber es klingt halt gut. Nicht lernende Staaten gehen unter, siehe die DDR. Staatliche Politik bedeutet immer Anpassung an die Umstände, an neue Entwicklungen, und wenn das bewusst geschieht, nennt man es „Lernen". Bürgerräte oder funktionale Äquivalente dazu haben wir ja schon in der Vorbereitungsphase mancher kommunaler Haushalte. Allzu gut bewährt haben sie sich vielerorts nicht. Und digitaler Aufbruch soll ja wohl nichts anderes heißen als das Bemühen, die Digitalisierung voranzutreiben. Lyrik eben.
Der Koalitionsvertrag enthält viele Versprechungen – können die gehalten werden?
Vieles wird von der Entwicklung der Pandemie abhängen, ihren wirtschaftlichen Folgen, einer möglichen Erholung der Weltkonjunktur, den Exporterfolgen der deutschen Wirtschaft und damit zusammenhängend dem Steueraufkommen. Nur wenn wirklich alles gut geht, lassen sich die ja zum Teil extrem kostspieligen Ankündigungen des Koalitionsvertrags einhalten. Aber wann geht schon wirklich alles wie erwünscht?
Was erwarten Sie: Hält dieser Vertrag oder wird er mit der Corona-krise hinfällig und die Bundesregierung muss sich neue Ziele setzen?
Wenn es nicht gelingt, die Bevölkerung durchzuimpfen und auch zumindest die Impfskeptiker dazu zu bewegen, sich impfen zu lassen und auf diese Weise Herdenimmunität zu erreichen, werden wir froh sein, wirtschaftlich und fiskalisch über die Runden zu kommen. Im Worst Case, im Falle einer fünften, und vielleicht sechsten oder siebten Infektionswelle, wird vieles von dem, was im Koalitionsvertrag steht, zwangsläufig Makulatur werden. Auch andere externe Ereignisse wie ein Krieg an der Ostgrenze der Ukraine oder eine Invasion Russlands in den baltischen Staaten hätte einen ähnlichen Effekt. Solche externen Ereignisse sind nicht voraussehbar und sie lassen sich auch deshalb nicht steuern. Insofern setzen Koalitionsverträge immer, besonders aber der der Ampel-Koalition, auf internationale und ökonomische Schönwetterperioden.