Wild, apokalyptisch, erinnerungsschwer und fantastisch kommen unsere Literaturempfehlungen daher. Für alle ist etwas dabei. Warum also nicht die pandemiebedingt kontaktärmere Zeit für Leseentdeckungen nutzen?
Endzeitszenario im hohen Norden
Evan ist ein „Rez Everyman", einer, der mit seiner Familie im Reservat lebt, hoch oben im Norden Kanadas. Denn vor wenigen Jahrzehnten haben die Behörden die Anishinaabe aus ihrer angestammten Heimat hunderte von Meilen weiter südlich nach Norden umgesiedelt. Jetzt also leben die Menschen großflächig auf dem Reservatsgelände verteilt in einfachen Häusern oder containerartigen Behausungen. Zwar weitab von den Städten weiter im Süden, doch immerhin versorgt mit Elektrizität, mit Telefonnetz und Internet.
Noch fast idyllisch wirken die ersten Szenen von Waubgeshig Rices Roman „Mond des verharschten Schnees", wenn sich Protagonist Evan auf die Elchjagd macht, um die Lebensmittelvorräte für den nahenden Winter aufzustocken. Schnell stellt sich aber heraus, dass sich nur noch wenige in der Gemeinschaft wie Evan auf die traditionellen Jagdtechniken und überlieferten Rituale verstehen. Längst verlassen sich die meisten auf die Lebensmittellieferungen der Behörden, mit fatalen Folgen, wie sich bald zeigen wird. Denn nach und nach versagen die „Errungenschaften der Zivilisation" – Telefonleitungen scheinen gekappt zu sein, auch Mobiltelefone und Internet funktionieren nicht mehr. Und ein heftiger Schneesturm zieht auf, der das Land bald für Wochen, ja für Monate unter einer dicken Schneedecke begraben, ein Überleben der Menschen zur Herausforderung machen wird.
Eine apokalyptische Szenerie beschwört der indigene kanadische Autor und Journalist Waubgeshig Rice in seinem neuen Roman herauf. Er schildert, wie die Bewohner des Reservats angesichts immer knapper werdender Vorräte je nach Typ gereizt, panisch oder depressiv werden, ja sogar aufeinander losgehen. Zudem sorgen weiße (!) Flüchtlinge aus dem Süden dafür, dass der ohnehin gefährdete Zusammenhalt immer zerbrechlicher wird. Wuchtig kommt die Erzählung daher, unbarmherzig wie die alles verschlingende Schneedecke. Autor Waubgeshig Rice stellt aber auch nachdenklich die Frage, ob nicht das Vergessen oder Leugnen der eigenen Identität zwangsweise in den Untergang führen muss. Sabine Loeprick
Blick in die Psyche der europäischen Eroberer
Hernando de Soto ist bereits ein Held, als er seine größte Expedition startet. Das Ziel: Eldorado, die legendäre Stadt aus Gold. Eine 800 Mann starke Truppe macht sich auf den Weg – doch ihrer Reise, die sie bis ins heutige Kansas führen soll, ist wenig Glück beschieden: Widerständige Ureinwohner, undurchdringliche Sumpfgebiete, Fieber und Kälteeinbrüche stehen den Eroberern im Wege, von denen gerade einmal 211 nach vier Jahren Irrfahrt zurückkehren werden. Die menschlichen Extreme zwischen Wahnsinn und blutrünstiger Wüterei zeichnet der österreichische Autor Franzobel mit dickem Pinselstrich: Da werden die Säbel geschwungen, die Pfeile fliegen, es wird skalpiert, geköpft und verbrannt. Der Fokus liegt auf Figuren mit klingenden Namen wie Luis de Moscoso, genannt Moskito. Dazu gesellt sich allerlei Personal wie der Schiffbrüchige Elias Plim, der eine haarsträubende Geschichte über seine Rettung auftischt. Franzobel beteuert in seiner Danksagung, möglichst wahrhaftig erzählt zu haben – tatsächlich aber wird hier wild fantasiert: Quigley, der englische Koch der Truppe etwa, erfindet im Roman beispielsweise sowohl das Football-Spiel als auch Coca-Cola. Ein buntes Völkchen sehr von sich selbst überzeugter Europäer also, die erkennen müssen, dass ihre Mission ein heilloses Himmelfahrtskommando ist. Zwei weitere Volten schlägt der Roman noch: Da ist zum einen der Notar Turtle Julius, der das Testament des Grafen von Orgaz zu vollstrecken hat und am Ende so übel zugerichtet wird, dass er den Ureinwohnern wie das gefürchtete Fabelwesen Wendigo vorkommt. In der Gegenwart erhält währenddessen Anwalt Trutz Finkelstein ein Schreiben, in dem die Native Americans die Restitution des Gebiets der Vereinigten Staaten fordern. Er macht sich daran, eine Sammelklage vor dem Obersten Gerichtshof anzustrengen – die Verhandlung bildet den krönenden Abschluss dieses wilden Romans. Fabian Thomas
Das schlangenförmige Untier
Wir sind in Dunkelblum, einem Städtchen an der österreichisch-ungarischen Grenze, tief im Burgenland. Es ist kurz vor dem paneuropäischen Picknick, also 1989, als die ungarischen Grenzzäune fielen. Das macht die Dunkelblumer nervös. Mit den „Drüberischen" hatten sie jahrelang nichts zu tun, und das sollte so bleiben. Dabei heißen sie selbst Balaskó, Koreny, Farkas, Horka oder Ferbenz. Die ganz Alten erinnern sich noch, dass das Land mal eins war. Da kommt ein rätselhafter Fremder in die Stadt, mietet sich im Gasthof „Tüffer" ein, nimmt vorsichtig Kontakt auf und spricht mit den Einheimischen. Eine Gruppe junger Leute „aus der Hauptstadt" kümmert sich derweil um den jüdischen Friedhof, reißt das Gestrüpp raus, mit dem die Gräber zugewachsen sind und stellt die Grabsteine wieder auf. Dann wird auch noch ein Skelett ausgegraben, mitten auf der Rotensteiner Wiese. Die Vergangenheit ist nicht vorbei – in Dunkelblum haben die Mauern Ohren und die Blumen Augen, schreibt Eva Menasse. Die Einheimischen wissen alles voneinander, und sie wissen oder ahnen, dass im Krieg und danach Schlimmes passiert ist. Aber darüber redet man nicht. Niemand will, dass sich dieses „schlangenförmige Untier", vor dem alle Angst haben, wieder regt. Doch es kommt anders, alles begann mit einem großen Ball im Jahr 1945 im damals noch nicht zerschossenen Schloss. Was passierte hier? Wo sind die Toten verscharrt? Fragen, die der Fremde, Dr. Gellért, der damals als junger Mann aus Dunkelblum fliehen musste, stellt. Er hat damals als Jude in einem Versteck überlebt. Er will keine Rache, sagt er, er will nur die Totenruhe für die Opfer.
Eva Menasse verlegt das reale Massaker an 180 Juden auf dem Schloss der Gräfin Batthyány nach Dunkelblum. Sie steigt tief hinab in die österreichische Provinz. Manchmal braucht der deutsche Leser nicht nur ein Wörterbuch, das dankenswerterweise angefügt wurde, sondern wäre auch über ein Personenverzeichnis glücklich. Ob Eszter mit Agnes verwandt ist, woher der Lowetz kommt, warum alle Schurl den Geflickten nennen, welche Rolle der Dr. Alois Ferbenz spielt und was Flocke mit der Familie Malnitz zu tun hat – Menasse erzählt und erzählt, und manchmal fühlt man sich wie in einem Kuriositätenkabinett. Am Ende kennt der Leser fast jeden in der Stadt, die Resi, die das Hotel „Tüffer" von den jüdischen Besitzern übernommen hat, den Hobbyhistoriker Rehberg vom Reisebüro und Antal Grün, den Gemischtwarenhändler. Jeder bekommt seine Geschichte. Wer den Faden verliert, muss blättern. Das Buch ist keine Chronik, es ist ein österreichisches Panorama aus der Provinz über die Zeit seit 1945. Volker Thomas
Doppelt gelandet
Gleich auf der ersten Seite macht der Leser Bekanntschaft mit dem Auftragsmörder Blake und dessen Gedankenwelt. Doch kaum, dass man begonnen hat, sich mental auf Blakes Figur einzulassen, wird schon der nächste Charakter eingeführt: Victor Miesel, ein erfolgreicher Romancier, der zunächst nichts mit Blake zu tun haben scheint. Auch Victor treiben Fragen um Leben und Tod um. So etwa schreibt er an seinen Verleger: „Ich habe nie erfahren, was an der Welt anders wäre, wenn ich nicht existiert hätte, noch zu welchen Ufern ich sie hätte führen können, wenn ich intensiver gelebt hätte, und ich sehe nicht, was mein Verschwinden an ihrem Lauf ändern sollte". Kurz danach scheidet er freiwillig aus dem Leben. Noch bevor man erahnt, an welchen Punkten sich die Lebenslinien von Blake und Victor kreuzen könnten, werden zunächst weitere Romanfiguren in Parallelmontagen vorgestellt. Kapitel um Kapitel taucht man ein in eine jeweils andere Lebenswelt. Da ist etwa der alternde, unglücklich verliebte Architekt André Vannier und seine, sich von ihm abwendende Geliebte Lucy Bogaert. Oder der nigerianische Afro-Pop-Sänger Slimboy, der sich auf dem Weg zu einem Konzert in die USA befindet. Diese und weitere Figuren sitzen im März 2021 im selben Flieger nach New York City, der in heftige Turbulenzen gerät. Die Maschine landet sicher, hebt jedoch drei Monate später mit exakt demselben Ensemble ein weiteres Mal ab. Die Protagonisten gibt es doppelt. In einem Spiel zwischen Realität und Simulation werden sie kurze Zeit später mit ihrem jeweiligen Alter Ego konfrontiert. Geschrieben wurde das literarische Vexierspiel von Hervé Le Tellier, der dafür 2020 den Prix Goncourt, den wichtigsten französischen Literaturpreis erhielt. Das genreübergreifende Werk zwischen Thriller, Science-Fiction und Zeitsatire ist ein ebenso unterhaltsamer wie spannender Pageturner, gespickt mit hintergründigen, philosophischen Fragestellungen. Julia Christ