Stimmt es, dass uns diese ständigen Krisen, dieser ständige Wandel überfordert? Um seine Widerstandsfähigkeit zu erhöhen, müssen wir uns selbst verändern, sagt der Berliner Transformationsforscher Stephan Rammler, und mit jenen im Gespräch bleiben, die dies nicht können – oder wollen.
Herr Prof. Rammler, der Wandel ist das beherrschende Thema Ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Vor welchen Veränderungen stehen wir denn Ihrer Meinung nach gerade?
Es gibt fünf zentrale Megatrends, also lang anhaltende Entwicklungen, die wir beobachten, die global und tiefgreifend sind. Da wäre die demografische Entwicklung unseres Planeten hin zu zehn Milliarden Menschen, während die Ressourcen des Planeten gleich bleiben und seine Ökosysteme degradieren. Diese Menschen wollen am besten mithilfe nachhaltiger und ökologischer Landwirtschaft etwas essen, sie wollen wohnen, mobil sein, eine Lebensqualität haben. Noch wissen wir nicht, wie wir all jene Bedürfnisse befriedigen können. Dann die Urbanisierung, die sich derzeit vor allem in den asiatischen und afrikanischen Teilregionen vollzieht, sprich die Bündelung dieser vielen Menschen auf engem Raum. Leben Menschen auf engem Raum, gibt es Konflikte und Konkurrenzsituationen, in der Stadt zum Beispiel die Diskussion um den von Autos belegten Straßenraum und eine neue Aufteilung dieses Straßenraums. Bei uns ist dies ein Luxusthema, in anderen Themen der Welt wissen Menschen nicht, wo sie wohnen sollen, weil es zu eng ist. Wohnen, Mobilität und Energieversorgung dort klimaneutral zu gestalten ist eine wahnsinnige Herausforderung. Drittens das Thema Nachhaltigkeitstransformation: Klimawandel ist nicht das einzige Thema, da wäre die Biodiversität in der Landwirtschaft, Vermüllung der Meere, das Recycling von Rohstoffen.
Wie gehen wir damit um?
Die westlichen Demokratien versuchen ihr Lebensniveau zu halten und die Nachhaltigkeitsfrage auf der Basis von Hochtechnologie zu lösen. Diese ist jedoch ressourcenintensiv. Wir holen uns diese Ressourcen in einer Art „grünem Imperialismus" aus den Ländern des globalen Südens, wobei uns recht egal ist, wie es den Menschen dort damit geht. Dies kann auf Dauer nicht gutgehen, denn auch der globale Süden hat sich auf den Weg gemacht, um bessere Lebensqualität für seine Menschen zu erzeugen.
Welche Megatrends sehen Sie noch?
Der vierte Megatrend ist die Individualisierung – ein gesellschaftlicher Übergang von fremdbestimmter Individualität, also vorgegebenen Verhaltensregeln, Traditionen und Institutionen hin zur selbstbestimmten Individualität, zur Einzigartigkeit. Wir sollen uns individuell entwickeln, einen besonderen Lebensweg wählen, um als Angestellte für Unternehmen, als Sexualpartner oder in den sozialen Medien interessant zu wirken. Dieser Trend ist folgenreich für viele Transformationsprozesse, unter anderem für die Nachhaltigkeitsdebatte: Wie können wir eine gesellschaftliche Debatte in einem Umfeld toxischer Singularität führen, in der wir uns selbst die nächsten sind? Wie können wir auf dieser Grundlage starke kollektive Strategien entwickeln? Und schließlich der fünfte Megatrend, die Digitalisierung: Sie kann uns mehr ermöglichen, aber sie hat auch Schattenseiten wie Ressourcen- und Energieverbrauch. Demokratien werden manipulierbar, Diskurse werden erheblich zugespitzt, digitale Netze sind angreifbar, Kriege können im digitalen Raum geführt werden.
Und nun auch noch eine Pandemie.
Ja, und wir sehen: Diese Gesellschaft ist einerseits in der Lage, auf Krisen zu reagieren. Aber so richtig gut darauf vorbereitet sind wir nicht. Also stellt sich die Frage nach wirksamer Krisenresilienz. Ein Beispiel: Neben den großen Aufgaben wie Nachhaltigkeit, soziale Inklusion, dem Abbau von Hunger und dem Erhalt hoher Lebensqualität müssen wir dennoch akzeptieren, dass wir den Klimawandel nicht völlig aufhalten können. Im Gegenteil, wir erleben ihn jetzt schon in Form von Starkwetterereignissen, Fluten, Hitzetoten und Baumsterben. Selbst in Deutschland wird dies in großem Maße sichtbar. Daher haben wir auf diesem Feld eine doppelte Aufgabe: den Klimawandel einhegen und gleichzeitig unsere Lebenswelt dagegen wappnen. Ich nenne dies transformative Resilienz. Wir benötigen eine Resilienzpolitik, die von der Bundesregierung bis auf die kommunale Ebene Lösungen entwickelt für die sicher eintretenden Krisen.
Das klingt nach einem gewaltigen Berg an Aufgaben, die wir gleichzeitig bearbeiten müssen. Haben sich Veränderungen in den vergangenen Jahrzehnten beschleunigt und vervielfacht oder ist dies nur eine subjektive Wahrnehmung.
Nein, diese Beschleunigung ist logisch. Jede Gesellschaft unterliegt ständigen Modernisierungsprozessen. Hinzu kommt nun eine enorme ökonomische Dynamisierung in den vergangenen Jahrzehnten – einige Teile dieser Welt sind reicher als andere. Technologische Dynamiken haben sich beschleunigt. Wir haben in allen Bereichen starke Innovationen, teils Sprunginnovationen. All dies zusammen erzeugt eine enorme Dynamik auf allen Ebenen: geopolitisch, umweltpolitisch, migrationspolitisch und vielen mehr. Hinzu kommt eine enorme Verdichtung in der Geo- und Wirtschaftspolitik: Je stärker eine Gesellschaft untereinander verbunden ist, wir sprechen von Globalisierung, desto mehr sind wir von Ereignissen betroffen, die woanders geschehen. Bestes Beispiel ist der stecken gebliebene Frachter im Suezkanal, der die Weltwirtschaft über Monate in Atem gehalten hat. Wir werden also weitere sogenannte Interdependenzkrisen erleben, Krisenereignisse, die unsere hohe Abhängigkeit voneinander aufzeigen. Durch diese Verdichtung und Beschleunigung erleben wir Krisen so rasch und in hohem Ausmaß.
Diese Krisen haben Auswirkungen auf uns als Individuum und als Gesellschaft – welche sind dies?
Wenn diese Krisen nicht richtig gehandhabt werden, führen sie dazu, dass Menschen sich rückwärts wenden, hin zu einer Vergangenheit, die vermeintlich besser war. Der Gesellschaftstheoretiker Zygmunt Bauman nannte dies „Retrotopia": Die Vergangenheit ist bekannt und erklärbar, man kann sie sogar verklären und romantisieren. Die Zukunft ist unsicher, brutal, herausfordernd und riskant. Teile unserer Gesellschaft haben verlernt, nach vorne zu denken. Diejenigen, die sich sozial oder kulturell abgehängt fühlen, reagieren mit Ablehnung auf die Auflösungsprozesse gesellschaftlicher Traditionen und Institutionen zugunsten der individuellen Entfaltung. Wir sehen das beim Männerbild, beim Frauenbild, bei den Themen Migration oder Religion.
Können Sie das noch näher erklären?
Nehmen wir einen klassischen Facharbeiter in der Automobilindustrie am Band, der über die vergangenen 25 Jahre Verbrenner gebaut hat. Er wird gut bezahlt, hat ein eigenes Häuschen und Familie, sieht sich aber jetzt den Veränderungen in der Autoindustrie gegenüber, etwa der Elektromobilität. Die Veränderung ist notwendig, nicht mehr aufzuhalten und bedroht seinen Job. Wer einen sicheren Arbeitsplatz hat, hält gern daran fest statt sich freudestrahlend auf etwas Neues, Riskanteres einzulassen. So sind Menschen: Neues führt zu Unsicherheiten. Dies kann man gut oder schlecht managen. Wo es gut gemanagt wird, kann der Arbeiter sich selbst und seine eigenen Ideen einbringen. Die Veränderungen wird man den Menschen nicht ersparen können. Dies hat auch die neue Bundesregierung betont, unter anderem Robert Habeck, der sagte: „Wir werden den Menschen etwas zumuten." Dies wird zu Diskussionen führen, zu Kritik, Radikalisierung. Unterschiedliche Milieus reagieren unterschiedlich darauf, einige wenden sich zurück und sagen: „Früher war alles besser." Zurück zur Nation, zur D-Mark, es gibt keinen Klimawandel und keine Pandemie. Wir verstehen die Komplexität von Wissenschaft nicht, also lehnen wir sie ab.
Sind Sie deshalb besorgt?
Uns geht damit der „soziale Humus" verloren, das, was wichtig ist, damit Gesellschaften gedeihen, Toleranz und Debatte. Ich hoffe, die neue Bundesregierung hat ein gutes Händchen dafür, um erfolgreich zu vermitteln, dass wir diese Aufgaben gemeinsam gut bewältigen können. Wir brauchen das Vertrauen in die Wissenschaft, weil unsere Welt so komplex geworden ist.
Sie haben den Begriff toxische Singularität genannt – ist das rückwärtsgewandte Verhalten eine Konsequenz aus jener übertriebenen Individualisierung?
Auch, aber nicht allein. Wir müssen akzeptieren, dass viele Dinge gleichzeitig passieren und sich gegenseitig beeinflussen. Für uns Wissenschaftler ist dies ebenfalls herausfordernd. Die Individualisierung aber läuft unabhängig von allen anderen Prozessen, eine Strömung, die nicht steuerbar ist. Das Positive daran ist ja, dass es auch ein Freiheitsversprechen beinhaltet: das Ausbrechen aus alten Strukturen. Wir sollten aber darauf achten, wo Individualität gefordert wird, die Gemeinschaft zu erhalten. Denn wir haben gemeinsam Aufgaben zu lösen. 30 Jahre neoliberale Politik und Deregulierung auf Kosten sozialer Sicherheit haben dies nicht gerade gefördert. Toxisch heißt ja, dass wir dadurch verlernen, miteinander zu sprechen, nur noch übereinander sprechen, intolerant sind gegenüber abweichenden Meinungen. Diese Toleranz muss eingeübt werden, denn ohne ist es schwieriger, mit diesen Krisen umzugehen.
Mit welcher Strategie können wir als Individuen diese Krisen also überstehen?
Es gibt zwei Arten der Resilienz: das „Nach-Vorne-Pendeln" und das „Zurück-Pendeln". Es geht dabei darum, wie ein durch eine Krise gestörtes System in seinen Ursprungszustand gebracht werden kann. Um künftig widerstandsfähiger zu sein, müssen wir uns verändern: privat, gesellschaftlich, unternehmerisch. Was wir als „Rückwärtsgewandtheit" begreifen, ist das Zurück-Pendeln – was wir aber brauchen, ist das Vorwärts-Pendeln. Dies ist auch die größte Herausforderung für mich: Den Menschen begreiflich zu machen, dass Fortschritt, der auch zu Unsicherheit führt, die Resilienz erhöht.
Wie gehen wir aber mit den „Zurück-Pendlern" um?
Reden, reden, reden. Wir hatten in den vergangenen Jahrzehnten ein gutes Gelingen der demokratischen Prozesse in Deutschland, ein Land, das bislang recht krisenfest schien. Nun erleben wir auch durch die Pandemie eine Art Schock – da passiert ja doch etwas Krisenhaftes! Nun geht es darum, unsere demokratischen Tugenden, Diskussionen, Debatten wiederaufzunehmen – mit politischen Gegnern, mit Impfgegnern, auch wenn wir deren Meinung nicht teilen. Mit eigener Eskalation darauf zu reagieren ist nicht der richtige Weg. Vielleicht ist deshalb auch die unaufgeregte Art eines Bundeskanzlers Olaf Scholz die richtige, um damit umzugehen.
Sehen Sie also die Zukunft positiv?
Unbedingt. Die Herausforderungen, die ich genannt habe, sind, empirisch nachgewiesen, keine dunkle Zukunftsvision. Wir sind hier in Deutschland ein Hort liberaler, pluraler Demokratie und wir sollten die kollaborative Intelligenz, die wir besitzen, nutzen. Zum Beispiel, um diese Form des grünen Imperialismus zu überwinden. Denn wir werden in Europa und der Welt gebraucht: als Ideengeber, als Vorbild.