Die neue Bundesregierung verspricht einen neuen Aufbruch. Dabei hat der große Umbruch längst alle Lebensbereiche erfasst. Und das in einer Dynamik, die viele als bedrohlich empfinden. Für andere tun sich neue Zukunftschancen auf. Beides ist berechtigt.
Nichts ist beständiger als der Wandel. Das wusste nicht nur der alte Charles Darwin bei der Entwicklung der Evolutionstheorie. Vermutlich ist aber auch nichts beständiger als die Angst vor Veränderung. Zumindest soweit Veränderung als Bedrohung empfunden wird. Gleichzeitig gilt aber auch, dass jedem neuen Anfang ein Zauber innewohnen kann. Kluge Sprüche über Lust an und Sorge vor Veränderungen gibt es wie den berühmten Sand in der Wüste. Wenn es konkret wird, helfen sie in aller Regel reichlich wenig.
An Veränderung und Wandel herrscht derzeit wahrlich kein Mangel. Konkret ist es an allen Ecken und Enden. Klimawandel, Transformation, globale Verwerfungen – alles ist in Bewegung, und das nicht in einem gemütlichen Fluss, wie beim „pantei rei" („alles fließt") der alten Griechen, sondern in einem reißenden Strom. Gewissheiten sind Mangelware geworden, und wohin das alles führen soll, ist nicht wirklich erkennbar. Beständig scheint nur eine Gewissheit, nämlich dass etwa in Sachen Klimawandel keine Zeit mehr bleibt, alles nochmal in Ruhe zu sortieren. Dafür sind sogenannte Kipppunkte, ab denen Entwicklungen unumkehrbar sind, zu deutlich vor Augen.
Gewissheiten sind Mangelware
Nach fast zwei Jahren Pandemie-Krise fragt man sich schon, wo da noch große Lust auf Veränderung herkommen soll. Klar hat die Pandemie Vieles und das auch noch schneller in Bewegung gebracht, als es vorher denkbar war. Da machen Schulen tatsächlich den Sprung in die digitale Welt, um es nur an einem Beispiel festzumachen. Aber an den großen Rahmenbedingungen hat auch die Krise bislang noch nicht so wirklich viel verändert. Das größte Bestreben scheint vielerorts, endlich aus der Pandemie zurück zu den Zuständen davor zu kommen. Da war zwar auch nicht alles gut, aber ganz so schlimm war es dann, nachträglich betrachtet, auch wieder nicht.
Aber sollte nicht in jeder Krise auch eine Chance stecken?
Mitten in der pandemischen Krise schickt Deutschland die regierungsgewöhnte Union zum Nachdenken und Erneuern auf die Oppositionsbänke und wählt sich die erste Ampel zusammen.
Kein revolutionärer Wechsel, aber eine klare Richtungsveränderung, die auch das Gespür zum Ausdruck bringt, dass sich einiges ändern muss und zwar deutlich ändern muss – aber bitte dabei nicht gleich alles wie das sprichwörtliche Kind mit dem Bade ausschütten.
Dabei hat sich schon länger der ziemlich sichere Eindruck festgesetzt, dass die Menschen im Land zu einem großen Teil sehr viel weiter und zu sehr viel mehr bereit sind, als es „die da oben" gemeinhin unterstellen (und aus Sorge davor zu Zögerlichkeiten neigen). Zum Beleg braucht man gar nicht einmal die Fridays for Future zu zitieren. Denn deren beachtlicher Erfolg mit den vielen Ablegern (Parents, Scientists etcetera) erklärt sich auch dadurch, dass das schon länger gewachsene Bewusstsein nur noch eine richtige Plattform brauchte, um so deutlich sichtbar zu werden.
Schwieriger wird es da schon mit Blick auf die Arbeitswelt. Aber auch da ist die Sache nicht so eindeutig, als würden sich alle nur in Sorge um den Arbeitsplatz ergehen. Eher im Gegenteil ist vor allem der Ruf zu vernehmen, aktiv am Transformationsprozess beteiligt sein zu wollen.
Für Veränderung muss man arbeiten
Der große Wandel hat viele Gesichter, auch in der Gesellschaft. Identitätspolitische Bestrebungen und Fundamentalablehnung des Systems sind nur zwei markante Entwicklungen, neben denen sich noch viele andere wie etwa die Krise der großen Kirchen und die gleichzeitige Konjunktur esoterischer Bewegungen auflisten ließe. Es ist eine Gesellschaft im Wandel, auf der Suche nach einer neuen Identität. Manches scheint da wie ein Ausprobieren in einer fast schon pubertär anmutenden Phase. Auf der anderen Seite steht ein Fackelaufzug vor dem Privathaus einer Ministerin für eine ernsthafte Bedrohung dessen, worauf unser Gemeinwesen gründet. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Spaltung formuliert der Ampel-Koalitionsvertrag nicht umsonst als einen zentralen Anspruch: „Wir machen Politik für eine Gesellschaft des Respekts."
Die Frage bei den großen Umbrüchen ist: Wieviel Veränderung vertragen Menschen? Ist jede Veränderung auch gleich ein Fortschritt? Und was ist eigentlich Fortschritt? Dürfen wir weiter darauf setzen, alles irgendwie durch technologischen Fortschritt in den Griff zu bekommen, oder müssen wir nicht andere Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens entwickeln? Reine Entweder-oder-Fragen dürften alleine kaum zu guten Antworten führen, eher sogar zu einem weiteren Auseinanderdriften beitragen. Es geht vielmehr um kluge Kombinationen, und da lohnt sich dann schon viel eher die Debatte darum, was jeweils „klug" ist.
Unsere Interviewpartner nähern sich den Veränderungen aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln, mit tiefgründigen Analysen, aber alles andere als resignativ.
Zugegeben: Komplexität und Größe der Herausforderungen in dieser Umbruchphase sind historisch einzigartig. Aber das waren sie in den großen Umbrüchen der Vergangenheit auch immer gewesen. Es gibt weder Grund zu verzweifelter Resignation noch zu blauäugigem Optimismus. Die Wege liegen irgendwo dazwischen. Das deuten auch die vielen bekannten Sprichwörter und Zitate zu „Veränderungen" an, die sich nicht umsonst über viele Jahrhunderte bis heute bewährt haben. Nette Lebensweisheiten und Sprüche alleine wenden die Dinge aber auch nicht zum Besseren. Das wiederum wusste schon der Kirchenlehrer Thomas von Aquin, dem der Satz zugeschrieben wird: „Für Wunder musst man beten, für Veränderung aber arbeiten." Auf ein Neues in 2022.