Die Staatengemeinschaft hat mit ihrem Abzug aus Afghanistan unzählige Menschen zurückgelassen, die für die USA und ihre Verbündeten gearbeitet haben. Nach der rasend schnellen Übernahme des Landes durch die Taliban müssen besonders sie um ihr Leben fürchten.
Die Fernsehbilder ließen keinen Zweifel aufkommen: Dutzende bewaffnete Männer mit Bärten und Turbanen auf dem Kopf zogen in den Präsidentenpalast in Kabul ein. Damit demonstrierten die Taliban – 20 Jahre nach ihrem Sturz – ihren Siegeszug gegen die letztlich unterlegene afghanische Regierung. Es ist Mitte August, als die radikal-islamischen Milizen die Macht an sich reißen. Zuvor war Staatschef Aschraf Ghani geflohen. Zunächst vermutete man, dass er im benachbarten Usbekistan untergetaucht sei. Wenig später räumte er über Facebook ein, dass die Taliban gesiegt hätten. Ghani erklärte, er sei aus Afghanistan geflohen, um „eine Flut des Blutvergießens zu verhindern“. Wenn er in Afghanistan geblieben wäre, wären „zahllose Patrioten“ getötet und Kabul zerstört worden. Über seinen Aufenthaltsort machte er allerdings keine Angaben.
Spätestens seit der Ankündigung des Truppenabzugs der in Afghanistan stationierten internationalen Streitkräfte hatten Beobachter vor einer zunehmend instabilen Lage im Land am Hindukusch gewarnt. Doch der Darstellung der Taliban zufolge haben sie mit ihrem Krieg das Land deutlich vorangebracht – nicht zurückgeworfen. „Wir haben das erreicht, was wir gewollt haben, nämlich die Freiheit unseres Landes und die Unabhängigkeit unseres Volkes“, sagte Mohammad Naeem, Sprecher des Taliban-Politbüros dem Sender Al-Dschasira. Man wolle niemandem schaden. Andererseits werde man auch nicht zulassen, von Afghanistan aus andere Ziele anzugreifen. Man versichere allen, dass für die Sicherheit der Bürger und der diplomatischen Vertretungen gesorgt werde. In Kürze werde die Regierungsform feststehen.
Zehntausende wollten fliehen
Die Taliban kündigten zudem eine Amnestie für jene an, die für die Regierung oder ausländische Kräfte gearbeitet hatten. Aus von den radikal-islamischen Milizen eroberten Landesteilen waren allerdings bereits etliche Berichte über Vergeltungsmorde und andere gewaltsame Akte der Taliban bekannt geworden.
Neben der Besetzung des Präsidentenpalastes übernahmen die Taliban in der afghanischen Hauptstadt unter anderem verwaiste Polizeireviere. Nach offizieller Verlautbarung wollten sie übergangsweise für Recht und Ordnung sorgen. Kurz bevor die Taliban Kabul einnahmen, hatten Beschäftigte von Behörden und Regierung geradezu fluchtartig ihren Arbeitsplatz verlassen. Zivilisten versuchten an Geldautomaten ihr Erspartes abzuheben. Bewohner Kabuls berichteten über Plünderungen, unter anderem im Diplomatenviertel.
Zehntausende Afghanen klammerten sich an die Hoffnung, ihr Heimatland trotz der Machtübernahme durch die Taliban noch verlassen zu können – doch für viele sollte sich der Wunsch nicht erfüllen. Unter ihnen leben unzählige Ortskräfte, also zum einen einheimische Mitarbeiter der internationalen Truppen und Ministerien wie auch besonders schutzbedürftige Menschen wie Menschenrechtsaktivisten und Frauenrechtlerinnen. Während fürs Erste die US-Truppen die Verkehrskontrolle auf dem Flughafen von Kabul übernahmen, lief zunächst der kommerzielle Flugverkehr weiter. Zwischendurch kam es allerdings immer wieder zu Unterbrechungen und Verzögerungen. Hunderte Botschaftsmitarbeiter und private US-Bürger wurden aus Afghanistan ausgeflogen.
In einer gemeinsamen Erklärung forderten mehr als 60 Länder, dass Afghanen und andere Staatsangehörige, die das Land verlassen wollten, die Ausreise erlaubt werden müsse. Dabei müssten Flughäfen und Grenzübergänge geöffnet bleiben. Unterzeichnet hatten die Forderung unter anderem die USA, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Kanada, Japan, Italien, Südkorea, Australien und Katar. Deutlich machten die Unterzeichner, dass die Machthaber in Afghanistan die volle Verantwortung tragen müssen –
für den Schutz von Menschenleben und Eigentum sowie für die sofortige Wiederherstellung von Sicherheit und bürgerlicher Ordnung.
Selbstmordanschlag auf Fluchtwillige
Doch für die westlichen Alliierten vor Ort wurde der Handlungsspielraum zusehends enger – und die Zeit knapper. Immerhin hatten die Taliban weite Teile Afghanistans bereits unter ihre Kontrolle gebracht. Mit dem Einmarsch in Kabul waren sie ins Zentrum der Macht vorgerückt. Bald darauf drohten die neuen Machthaber der US-Regierung mit Konsequenzen, falls sie ihren Einsatz in Kabul verlängern sollten. Anders als Deutschland, Frankreich und Großbritannien, die auf eine Verlängerung des Einsatzes pochten, hielt US-Präsident Joe Biden an seinem Plan fest. Bis Ende August sollte der Abzug der 6.000 US-Soldaten in trockenen Tüchern sein. Für die anderen Streitkräfte bedeutete das: Sie mussten aus dem Land raus, bevor der Schutz durch die USA wegbrach.
Mitten in der wohl größten Evakuierungsmission in der Geschichte Afghanistans verschärfte sich die Lage in Kabul weiter. Während Tausende Afghanen am Flughafen der Hauptstadt ungeduldig darauf warteten, außer Landes geflogen zu werden, sprengte sich unweit ein Attentäter in die Luft. Kurz darauf bekannte sich auf dem Messengerdienst Telegram der afghanische Ableger der Terrormiliz Islamischer Staat, IS-Chorasan, zu dem Anschlag. Der Name der Gruppe verweist auf die historische Region Chorasan. Im Mittelalter umfasste diese weite Teile des heutigen Afghanistans, des Irans und Zentralasiens. Laut Medienberichten gebe es keinen Grund, die Echtheit des Bekennerschreibens anzuzweifeln.
Wie das US-Verteidigungsministeriums zunächst angab, soll es kurz darauf zu einem weiteren Selbstmordattentat an einem in der Nähe befindlichen Hotel gekommen sein. Dort waren auf Betreiben der USA und anderer westlicher Länder Menschen untergebracht, die aus Afghanistan ausgeflogen werden sollten. Tags darauf dementierte ein Pentagon-Sprecher die Angaben. Es habe nur ein Selbstmordattentat, nicht zwei, gegeben. Wie es ein Tag zuvor zu den falschen Angaben gekommen wäre, sei ihm unklar. Es wäre aber nicht überraschend, dass es angesichts der Verwirrung solch „sehr dynamischer Ereignisse“ zur Weitergabe von falschen Informationen gekommen sei. Bereits am Tag des ersten Anschlags hatte der Chef des Zentralkommandos der US-Streitkräfte, General Kenneth McKenzie, gesagt, dass man mit weiteren Anschlägen rechne. Mindestens 92 Menschen, darunter 13 US-Soldaten, kamen bei den Attacken ums Leben. Mehr als 150 Menschen wurden verletzt.
Die Bundeswehr flog bis Ende des Monats rund 4.500 Menschen aus Kabul aus. Unter den Ausgeflogenen befanden sich mehr als 100 Ortskräfte mit ihren Familien, insgesamt rund 500 Menschen. Zudem haben alle deutschen Soldaten, Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes und der Bundespolizei Afghanistan verlassen, wie Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer angab. Die CDU-Politikerin selbst flog ins usbekische Taschkent, um die Ausgeflogenen in Empfang zu nehmen. An der Afghanistan-Mission waren von deutscher Seite bis zu 600 Fallschirmjäger, Soldaten des Kommandos Spezialkräfte (KSK), Feldjäger, Krisenunterstützungsteams, Sanitäter, Militärpolizei, Angehörige der Luftwaffe und weitere Spezialkräfte aller Bereiche der Bundeswehr beteiligt.
Als sich in Kabul in der Nähe des Flughafens der Anschlag ereignete, waren die Bundeswehrkräfte schon bereit zum Abflug, wie die Chefin der Bundeswehr betonte. Doch zwei Bundeswehr-Soldaten, die sich auf dem Flughafengelände aufhielten, mussten erst einmal zurückbleiben. Der Rückflug verzögerte sich entsprechend – später jedoch seien die beiden von einem Bundeswehrflugzeug abgeholt und ebenfalls nach Taschkent gebracht worden.