Trotz rasant steigender Infektionszahlen und Corona-Notstands wurden am 23. Juli die 32. Olympischen Sommerspiele in Tokio eröffnet. Für die teilnehmenden Athleten ein Segen, für die Pandemie-Eindämmung ein Rückschlag, für das IOC ein unverzichtbarer Geldsegen.
Die Szenerie im weiten Rund des brandneuen Olympiastadions von Tokio hatte am Abend des 23. Juli schon etwas Befremdliches. Bei der Eröffnungsfeier der 32. Olympischen Sommerspiele erboten die Repräsentanten der rund 11.000 teilnehmenden Athleten aus 205 Ländern ihren winkenden Begrüßungsgruß gleichsam ins Leere. Oder genauer gesagt in Richtung des deutschen IOC-Chefs Dr. Thomas Bach. Der hatte mit allen Mitteln die Durchführung des Mega-Events nach der einjährigen coronabedingten Verschiebung entgegen aller gesundheitlicher Pandemie-Bedenken durchgesetzt. Wie sehr Bach die Wirklichkeit auszublenden vermochte, wurde schon in seiner Eröffnungsrede mehr als deutlich, als er die Spiele als einen „Moment der Hoffnung" bezeichnet hatte.
Und das, obwohl vor den Stadiontoren der Corona-Notstand galt und in den Tagen bis zum Ende der Großveranstaltung am 8. August die Infektionszahlen rasant in die Höhe schossen. Waren es Anfang Juli bei einer extrem niedrigen Impfrate von 15 Prozent in Japan landesweit noch rund 1.800 Neuinfektionen gewesen, so sprang die Zahl Anfang August auf rund 12.000 und Ende August gar auf mehr 25.000. Im Großraum Tokio hatte sich die Zahl der Neuinfektionen von Anfang Juli bis Anfang August verzehnfacht, von 500 auf 5.000. Natürlich war es nicht möglich, diese unerfreuliche Entwicklung in einen direkten Zusammenhang mit dem Tross der rund 60.000 ausländischen Olympia-Akkreditierten aus Sportlern samt dem 432 Köpfe zählenden deutschen Team, Betreuern, Journalisten oder IOC-VIPs zu bringen. Dennoch war Corona bei den Spielen in Tokio omnipräsent. Dies schlug sich auch in 430 von den Organisatoren offiziell bestätigten und explizit mit Olympia verbundenen Infektionsfällen nieder, die trotz strengster behördlicher Auflagen nicht vermieden werden konnten. Dem vom IOC extra für Tokio neu formulierten sportlichen Motto „Schneller. Höher. Stärker – Gemeinsam" spotteten die Zahlen auch Hohn.
Realitätsverlust bei IOC-Chef Bach
Dass Dr. Thomas Bach die Spiele von Tokio, deren Durchführung zuletzt von mehr als 80 Prozent der Bürger Japans wegen Pandemie-Bedenken abgelehnt worden waren, in seiner Abschlussbilanz als „großen Erfolg für Japan, das IOC und die Sportwelt" feiern würde, dürfte von vornherein klar gewesen sein. Dass er sich trotz Besucherverbots und gähnend leerer Sportstätten gegen die Etikettierung des Events als „Geisterspiele" gewandt hatte, sagte aber viel über seinen Realitätsverlust aus: „Einige hatten vorher bereits von Geisterspielen gesprochen", sagte Bach. „Wir haben das Gegenteil gesehen. Die Athleten haben diesen Spielen die Seele gegeben." Damit noch nicht genug, wollte Bach sogar ein bislang nie dagewesenes Flair bei den Spielen in Tokio festgestellt haben: „Die Atmosphäre war intensiver als je zuvor."
Diese Einschätzung dürfte wohl kaum jemand geteilt haben. In einer Sache waren sich jedoch alle Beteiligten rund um Olympia einig. Die Spiele von Tokio waren die teuersten der Geschichte. Ursprünglich waren die Kosten auf 6,1 Milliarden Dollar taxiert worden, später wurde die Summe vom japanischen Organisationskomitee – nicht zuletzt wegen der teuren einjährigen Verschiebung – auf 15,4 Milliarden Dollar nach oben korrigiert. Inzwischen gehen Experten davon aus, dass die tatsächlichen Kosten bei 25 Milliarden Dollar angesiedelt werden müssen. Davon werden die japanischen Steuerzahler den Großteil zu bezahlen haben, was angesichts der Tatsache, dass Nippon die höchstverschuldete Industrienation der Welt ist, alles andere als erfreulich sein dürfte. Zumal sich das Land, anders als bei der Vergabe der Spiele nach Tokio 2013 angedacht, nicht als strahlender Phoenix aus der Asche nach Rückschlägen wie der Fukushima-Katastrophe präsentieren konnte.
Die Veranstalter hätten ihr Defizit nur durch den Ticketverkauf bei erhofften Zuschauererlösen von rund 815 Millionen Dollar etwas in Zaum halten können. Bezüglich der Einnahmen aus Sponsoring und Fernsehrechten mussten sie ja bekanntlich traditionell in die Röhre schauen, denn diese milliardenschweren Erlöse flossen wie immer ganz allein in die Taschen des IOC. Obwohl einige renommierte Sponsoren wegen der Pandemie abgesprungen waren, trugen neben den offiziellen 14 globalen Top-Sponsoren der Spiele zusätzlich 67 japanische Unternehmen einen stolzen Sponsoring-Beitrag in Höhe von mehr als drei Milliarden Dollar bei.
Die IOC-Kasse klingelte auch dank diverser TV-Anstalten. Alleine der US-Sender NBC soll für die Übertragungsrechte in den USA umgerechnet eine Milliarde Euro berappt haben. Vor diesem finanziellen Hintergrund dürfte verständlich sein, dass für das IOC und seinen Chef eine Absage der Spiele von Tokio keine Option gewesen sein konnte, hätte dies für das IOC doch einen Einnahmeverlust in Höhe eines einstelligen Milliarden-Dollar-Betrags bedeutet.
Sportler wurden einkaserniert
Den Athleten, aber auch den Pressevertretern aus aller Welt, wurden von den japanischen Behörden dafür harte und restriktive Verhaltens- und Hygieneauflagen auferlegt, die in einem sogenannten Playbook fixiert worden waren. Vor der Abreise nach Japan mussten zwei negative PCR-Tests vorgelegt werden, direkt nach der Landung wurde ein weiterer Kontrolltest verlangt. Danach ging’s für die Sportler in eine Blase, für Journalisten in Hotels mit klar definierten Ausgangsbeschränkungen. Die Athleten durften erst fünf Tage vor ihrem Wettkampf in das strikt abgeschottete olympische Dorf einziehen, das aus 21 Gebäuden bestand, die auf einem 44 Hektar großen Gelände in der Bucht von Tokio errichtet worden waren. Spätestens zwei Tage nach Ende ihrer Wettkämpfe mussten sie das Dorf zur sofortigen Abreise wieder verlassen haben. Tägliche Corona-Tests verstanden sich von selbst, außerhalb des Dorfs durften sie sich nur zu den Trainings- oder Sportstätten bewegen. Wer das Pech hatte, sich wie der deutsche Radsportler Simon Geschke mit Corona zu infizieren, wurde tagelang gnadenlos in wenig gastfreundlichen Quarantäne-Hotels weggesperrt.
Natürlich wurden in Tokio auch wieder jede Menge sportlicher Highlights geboten. Wobei zu hoffen ist, dass beispielsweise die Leichtathletik-Fabelweltrekorde über 400 Meter Hürden bei Frauen und Männern durch die US-Amerikanerin Sydney McLaughlin und den Norweger Karsten Warholm tatsächlich auf die schnelle Bahn oder neue Laufschuhe mit Carbonsohlen zurückzuführen waren – und nicht auf unerlaubtes Doping: Vor den Spielen waren Dopingtests coronabedingt um 45 Produzent reduziert worden, viele Athleten wurden über einen längeren Zeitpunkt kaum oder gar nicht getestet.
Das Abschneiden der deutschen Mannschaft war ziemlich enttäuschend. Mit 37 Medaillen, verteilt auf zehnmal Gold, elfmal Silber und 16-mal Bronze, belegte das Team „nur" den neunten Platz im Edelmetall-Ranking und blieb damit weit hinter den eigenen formulierten Ansprüchen zurück. Es war sogar das schlechteste Ergebnis eines deutschen Teams seit der Wiedervereinigung. Die USA behaupteten im Medaillenspiegel knapp den ersten Platz vor China, gefolgt vom überraschend starken japanischen Team. Noch bescheidener schnitten die deutschen Topathleten wieder in Sachen Prämien ab. Mit gerade einmal 20.000 Euro für Gold, 15.000 Euro für Silber und 10.000 Euro für Bronze belegten sie im internationalen Vergleich die hintersten Plätze. Singapur honorierte eine Goldmedaille seiner Athleten mit stolzen 850.000 Euro, selbst Italien überwies einem Goldmedaillen-Sieger noch 150.000 Euro. Forderungen von Athleten-Vertretungen an das IOC, die sportlichen Hauptdarsteller an den sprudelnden Olympia-Gewinnen fair zu beteiligen, sind bei Bach & Co. bislang allerdings auf taube Ohren gestoßen.