Obwohl die Impfkampagne deutlich Fahrt aufgenommen hatte, wurde inmitten von Diskussionen um Priorisierung und Freiheiten für Geimpfte eine „Bundesnotbremse" zum Brechen der dritten Corona-Welle beschlossen. Nicht zuletzt wegen neuer Virus-Varianten.
Spätestens nach dem Interview, das Bundeskanzlerin Angela Merkel Moderatorin Anne Will am 28. März exklusiv in der beliebten ARD-Abendtalkshow gegeben hatte, dürfte jedem Deutschen die Unzufriedenheit der Regierungschefin mit den unterschiedlichen, teils laxen Umsetzungen gemeinschaftlich beschlossener Corona-Maßnahmen in einigen Bundesländern klar geworden sein. Merkel: „Es bekümmert mich, dass einige die schwierigen Teile nicht so umsetzen, wie ich mir das wünsche." In Merkels Ankündigung, sie werde keinesfalls tatenlos zusehen, dass die Zahl der täglichen Neu-Infektionen auf über 100.000 ansteigen könne, schwang schon die Drohung mit, dass gegebenenfalls bundeseinheitliche Vorgaben durch eine entsprechende Änderung des Infektionsschutzgesetzes zum Brechen der dritten Corona-Welle nötig sein könnten. Damit hatte Merkel nicht nur jeglichen Lockerungsbestrebungen und Modell-Versuchen eine klare Absage erteilt, sondern ganz im Gegenteil eine Verschärfung des Lockdowns durch weitere Kontaktreduzierungen oder Ausgangsbeschränkungen ins Spiel gebracht.
Infektionsschutzgesetz novelliert
Trotz heftiger Bedenken einiger Länderchefs, aber unterstützt von breiten Teilen der Ärzteschaft angesichts deutlich steigender Infektionszahlen und absehbarer Engpässe auf den Intensivstationen, wurde Mitte April die Novelle des Infektionsschutzgesetzes durch den Bundestag gepeitscht. So dass die „Bundesnotbremse", wie das „Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Bedeutung" medial in Kurzform genannt wurde, am 23. April in Kraft treten konnte. Ab Samstag, 24. April, waren für die meisten Vorschriften zur Bekämpfung der Corona-Pandemie nicht mehr die 16 Bundesländer zuständig, sondern es galten vom Bund vorgegebene einheitliche Regeln. Die am 3. März beschlossene und von den Ländern teils nur inkonsequent umgesetzte „Notbremse", die ab einem Sieben-Tage-Inzidenz-Wert von über 100 an drei aufeinanderfolgenden Tagen in einem Bundesland oder einer Region greifen sollte, wurde durch die Bundesnotbremse ersetzt. In allen Kreisen und kreisfreien Städten der Republik schrieb die Bundesnotbremse unter anderem verbindlich jenseits der 100er-Grenze (an drei aufeinanderfolgenden Tagen) nächtliche Ausgangssperren zwischen 22 Uhr abends und 5 Uhr morgens vor, mit Ausnahmen fürs Joggen oder einen Spaziergang. Dazu Kontaktbeschränkungen eines Haushaltes auf nur noch eine fremde Person oder den Verzicht auf Präsenzunterricht zugunsten von Wechselunterricht in den Schulen. Ab einem Inzidenzwert von 165 mussten Schulen ganz geschlossen bleiben. Läden des täglichen Bedarfs durften geöffnet bleiben. Anderen Geschäften war bei Werten zwischen 100 und 150 der Einlass von Kunden bei Vorweisen eines negativen Corona-Tests im Sinne von Click and Collect erlaubt. Arbeitgeber wurden dazu verpflichtet, Homeoffice anzubieten. Sämtliche Regelungen wurden zunächst einmal bis zum 30. Juni befristet.
Hitzige Debatte um mögliche Privilegien
Zeitgleich mit dem neuerlichen Lockdown nahm die Impfkampagne im April allmählich Fahrt auf. Was auch durch die Einbeziehung der Hausärzte neben den rund 430 regionalen Impfzentren der Länder ab dem 6. April befördert wurde. Zwar wurden den Praxen anfangs nur jeweils 18 bis 48 Dosen pro Woche zugeteilt. Aber es stiegen in Windeseile immer mehr Praxen ein. In nicht einmal zwei Wochen erhöhte sich die Zahl von 35.000 auf 55.000 Mitte April, als Gesundheitsminister Jens Spahn einen neuen bundesweiten Tages-Impfrekord von 739.000 vermelden konnte. Als erstes Bundesland hatte zu diesem Zeitpunkt Bremen die 20-Prozent-Marke an Erstgeimpften überschritten, gefolgt vom Saarland mit 19,3 Prozent. Diskussionen gab es in Ärztekreisen über die Zuteilung von größeren Mengen von Astrazeneca neben Biontech, obwohl die Gesundheitsminister der Länder im Einklang mit der Ständigen Impfkommission das Astrazeneca-Vakzin nur noch für über 60-Jährige empfohlen hatten und ein etwaiger Einsatz bei Jüngeren ins ärztliche Ermessen gestellt worden war. Die aus dem Thrombosen-Risiko erwachsene Verunsicherung rund um Astrazeneca hatte daher kurzfristig das Impftempo etwas abgeschwächt, weil beispielsweise am 23. April bundesweit rund 800.000 verfügbare Dosen des Vakzins mangels Nachfrage nicht injiziert werden konnten. Wenig hilfreich, um Vertrauen bei der Bevölkerung zum Impfstoff Astrazeneca aufzubauen, war zudem die Empfehlung der Ständigen Impfkommission, dass unter 60-Jährige, die bei der Erstimpfung Astrazeneca erhalten hatten, bei der zweiten Dosis zu Biontech oder Moderna wechseln sollten. Ende April hatten laut RKI-Angaben knapp ein Viertel der Bundesbürger (23,9 Prozent) mindestens eine Corona-Erstimpfung erhalten. 7,3 Prozent waren schon vollständig geschützt.
Infolge der schnell wachsenden Zahl der Geimpften war es fast zwangsläufig, dass schon ab Mitte April eine hitzige Debatte um mögliche Privilegien oder Freiheiten für Corona-Geschützte entbrannte. Viele Verfassungsrechtler hielten jedenfalls die Einschränkung von Grundrechten für Geimpfte für unzulässig, ohne dabei jedoch auf das Dilemma einzugehen, das letztlich darin bestand, dass ein Teil der Bundesbürger noch gar nicht die Chance auf einen Impftermin hatte und daher eigentlich nicht unterschiedlich behandelt werden durfte als bereits Geimpfte. Auch die möglichst baldige Aufhebung der Impfreihenfolge wurde zunehmend zu einem brisanten Thema erhoben. Beispielsweise die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Prof. Alena Buyx, vertrat die Meinung, dass es kaum mehr vermittelbar sei, Geimpften, die laut Einschätzung des RKI wohl kaum mehr ansteckend seien, weiterhin Freiheitsbeschränkungen auferlegen zu wollen. Mit Blick auf die Impfpriorisierung meinte die Medizinerin, dass die Impfreihenfolge zwar noch richtig und wichtig sei, es aber nur eine Frage der Zeit sei, bevor man die Priorisierung aufgeben solle, eine gewisse Flexibilität sei ohnehin sinnvoll.
Vermehrt jüngere Intensivpatienten
Ende April preschten einige Bundesländer mit Bayern, Berlin und Hessen an der Spitze vor und stellten vollständig Geimpfte von einer Testpflicht auf das Corona-Virus frei. Somit wurden vollständig Geimpfte auf eine Stufe mit negativ getesteten Menschen befördert. „Nur die Gleichsetzung mit negativ Getesteten reicht nicht", sagte FDP-Chef Christian Lindner. Vielmehr sollten diese Menschen laut Lindner auch von Kontaktbeschränkungen oder Ausgangssperren ausgenommen werden.
Im Vorfeld des sogenannten Impfgipfels, einem dreistündigen Meinungsaustausch zwischen Bund und Ländern, bei dem am 26. April keinerlei handfeste Beschlüsse gefasst werden sollten, hatte Markus Söder eine Freigabe der Corona-Impfungen für alle bereits ab dem Monat Mai ins Spiel gebracht, obwohl Spahn dies erst für den Monat Juni in Aussicht gestellt hatte. Auf dem Impfgipfel wurde denn auch Spahns Vorgabe bestätigt. Auch wenn längst in den Arzt-Praxen ein schleichender Prozess der Ent-Priorisierung eingesetzt hatte, weil hier anstelle des straffen Einladungssystems der Impfzentren nach Risikogruppen letztlich persönliche Einzelfallentscheidungen getroffen werden konnten.
Da die Hauptrisiko-Gruppe der über 80-Jährigen Ende April fast vollständig geimpft war, meldeten die Intensivstationen einen zunehmenden Anteil von jüngeren Patienten. Laut Prof. Christoph Boesecke vom Universitätsklinikum Bonn waren nun vor allem Personen im Alter von 50 bis 70 Jahren am schwersten betroffen. Auch gebe es bei diesen jüngeren Patienten deutlich mehr gravierende Erkrankungen, was laut Prof. Boesecke auf die britische Virus-Mutante B.1.1.7. zurückzuführen sei, weil diese nicht nur ansteckender sei, sondern speziell bei jüngeren Patienten auch zu schweren Verläufen führen könne.