Die Erlebnisse aus Kindheit und Jugend sind prägend. So auch für Sting, der in einer Stadt aufwuchs, in der der Schiffbau alles dominierte. Auf der Suche nach Identität und Aufarbeitung setzte er seiner Heimat gleich mehrere Denkmale.
Eins von Stings bekanntesten Liedern beginnt so: Ich blickte heute über den Fluss / Ich sah eine Stadt im Nebel, eine alte Kirche, bei der die Möwen spielen / Ich sah die unglücklichen Shire Horses im Licht der Natriumdampflampe nach Hause trotten / Zwei Geistliche auf der Fähre / Zugvögel in einer kalten Winternacht / Währenddessen strömte der Fluss ohne Unterlass ins Meer – All this time the river flowed endlessly to the sea.
Dass Sting den Song „All This Time" und das dazugehörige Erfolgsalbum „The Soul Cages" vor mehr als 30 Jahren schrieb, hatte einen zentralen Anlass: den Tod seines Vaters. Ernest Sumner starb ein Jahr nach Stings Mutter Audrey im Jahr 1987 an Krebs. Sting blieb beiden Beerdigungen fern. Den Verlust, die Missverständnisse zwischen ihm und dem Vater sowie die eigene Herkunft verarbeitete er stattdessen im Album „The Soul Cages", das 1991 veröffentlicht wurde. Es ist ein preisgekrönter Befreiungsschlag nach einer längeren Schaffenskrise, die Sting nach dem Tod der Eltern belastete.
Die Szenerie der alten, etwas ramponierten Stadt in „All This Time" trifft auf viele industriell geprägte Regionen in England und wohl auch in anderen Ländern zu. Der Ort, den Sting im Text beschreibt, kann trotzdem sehr konkret benannt werden. Es ist sein Heimatort: Wallsend, eine kleine Stadt im nördlichsten Winkel von England an der Ostküste kurz unterhalb der schottischen Grenze. Wallsend hat nicht nur eine bewegte Geschichte, sondern auch einen sprechenden Namen. Dort, wo der River Tyne in die Nordsee mündet, verlief und endete einst der Hadrianswall. Das römische Grenzbefestigungssystem aus dem 2. Jahrhundert, das sich steinern und imposant über mehr als 100 Kilometer im Norden Englands von der Westküste bis zur Ostküste zog, markierte und sicherte das Hoheitsgebiet des Römischen Reichs an der nördlichen Grenze. Wallsend bedeutet also „das Ende des Walls". Oder wie es in Stings Musical „The Last Ship" heißt: „Wallsend? Wohl eher Worldsend." Am Ende der Welt. Für Sting als Jugendlichen muss es so gewesen sein. Er wird in Interviews nicht müde zu betonen, dass ihm früh klar war, dort unter keinen Umständen bleiben zu wollen.
Sting wurde im Nachkriegsjahr 1951 in einer Region geboren, in der nicht mehr die Römer alles dominierten, sondern ein anderes großes Thema vorherrschte: Schiffe. Während zunächst der Kohlebergbau ab dem 18. Jahrhundert einen Grundstein für den industriellen Aufschwung legte, florierte einige Zeit später auch der Schiffsbau. Waren die frühen Schiffe noch aus Holz gefertigt, so wurden sie ab Ende des 19. Jahrhunderts aus Eisen gebaut. Massive Kolosse, Wunderwerke der Technik. Über Generationen arbeiteten ganze Familien, Väter, Söhne, Brüder, Onkel und Cousins in den Werften. Auch Stings Vater war Ingenieur für Schiffsturbinen, arbeitete aber später als Milchmann.
„Alles dafür getan, zu entkommen"
Der Ort Wallsend ist besonders für die Traditionswerft Swan Hunter bekannt. Eine Anekdote fasst zusammen, wie nah Gigantomanie und Untergang im Schiffbau zusammenliegen: Bei Swan Hunter lief im Jahr 1907 die RMS Mauretania als größtes und schnellstes Schiff der Welt vom Stapel, einige Jahre zuvor wurde auch die RMS Carpathia dort gebaut. Da die Mauretania als größte Konkurrentin der fünf Jahre später in Belfast gefertigten Titanic in Sachen Geschwindigkeit galt, wählten die Verantwortlichen auf der Titanic bei ihrer Jungfernfahrt eine riskantere Route, um den Zeitrekord der Mauretania bei der Atlantiküberquerung zu unterbieten. Ein fataler Fehler. Nach der Kollision mit dem Eisberg war es wiederum die Carpathia, die als erstes Schiff die havarierte Titanic erreichte und zahlreiche Passagiere rettete. Beide Schiffe, Konkurrentin und Retterin, wurden in Wallsend gebaut. Ein Sinnbild für die Ambiguität des Schiffsbaus und des Größenwahns der Technik, die auch in Wallsend sichtbar war. „Die größten Schiffe dieses Planeten wurden am Ende meiner Straße gebaut", erzählte Sting in einem Interview mit dem Podcast „The Frame". Alles sei mit dabei gewesen: Kriegsschiffe, Tanker, Superliner. Er sei im Schatten der Schiffe aufgewachsen, sagte Sting einmal. Und das meinte er nicht unbedingt im übertragenen Sinne. Es gibt Fotos, in denen gigantische Schiffe am Ende seiner Straße die Häuserreihe um das Doppelte überragen. „Ich sah Tausende Männer morgens zur Arbeit gehen, und ich sah sie wieder nach Hause kommen. Ich fragte mich, ob das auch mein Schicksal sein sollte", erinnert sich Sting, dessen Vater ihm immer wieder sagte, er solle der Familientradition treu bleiben.
Die Herkunft ist prägend. Vor allem, wenn man wie Sting aus einem Umfeld kommt, in dem viele Lebenswege vorgeschrieben sind. Je fester die Strukturen, umso schwieriger ist es, sich daraus zu lösen und umso mehr verfolgt denjenigen, der vielleicht lieber Rockstar werden wollte als in der Werft zu arbeiten, das schlechte Gewissen, die Gemeinschaft im Stich gelassen zu haben oder Erwartungen nicht gerecht zu werden. „Mein Großvater hat in der Werft gearbeitet und all seine Brüder. Ich habe alles dafür getan, dem zu entkommen. Ich wollte dort nicht arbeiten", erzählte Sting vor einigen Jahren fast schon schelmisch in der Talkshow von Jimmy Fallon. Er schaute dabei unter sich wie ein trotziger Junge, der gerade etwas ausgefressen hat, das er nicht zugeben will. Und dann schob er schulterzuckend hinterher: „Ich wollte eben Rockstar sein." Die Beziehung zu seinem Vater beschreibt er immer wieder als schwierig und von Missverständnissen geprägt: „Ich wollte eine klassische Ausbildung, ich wollte Latein und Griechisch lernen und Philosophie. Und er wollte, dass ich eine technische Ausbildung mache. Damit ich etwas machen konnte, das er auch versteht."
„Die Arbeiter waren unglaublich stolz"
Stings Album „The Soul Cages" kann durchaus als Konzeptalbum betrachtet werden, das später auch den Grundstein für sein Musical „The Last Ship" legte, das 2014 uraufgeführt wurde. In „The Soul Cages" ist es die Figur des jungen Billy, der als eine Art Protagonist in einigen Songs vorkommt. Dem titelgebenden Song, der mit einem Grammy ausgezeichnet worden ist, liegt ein Märchen von Thomas Keightley zugrunde: Ein Wassermann bewahrt in seiner Wohnstätte unter der Meeresoberfläche die Seelen von ertrunkenen Seemännern in Käfigen auf. Einem jungen Mann gelingt es nach einem Wetttrinken mit dem Wassermann, die Seelen aus ihren Käfigen zu befreien und zu erlösen. „Das sind die Seelen der zerstörten Fabriken (...) / das sind die Seelen der gebrochenen Stadt", singt Sting im Song. Und es liegt mehr als nahe, dass er damit auch die Seele seiner Heimat, die Seelen seines Vaters und seiner Familie meint, mit denen er sich irgendwie versöhnen will. „Damals konnte ich das nicht würdigen. Ich bin in einer surrealen Industrieumgebung groß geworden. Es war episch, es war opernhaft. Und die Männer, die dort arbeiteten, fühlten das auch, obwohl sie es manchmal hassten, dort bei Wind und Wetter zu arbeiten. Aber sie waren unglaublich stolz auf das, was sie erschufen", sagt Sting. Während „The Soul Cages" sich eher mystischer maritimer Bilder und Ideen bedient, werden im Bühnenwerk „The Last Ship" zwar auch einige Songs aus dem Album verwendet, es gibt aber eine konkretere Handlung. „The Last Ship" ist kein autobiografisches Werk, aber es finden sich Parallelen zu Stings eigener Jugend. So überrascht es nicht, dass es neben traditionellen Figuren im Stück auch jene gibt, die sich an verkrusteten und eingefahrenen Abläufen und Sichtweisen reiben.
In „The Last Ship" geht es unter anderem um Gideon, der die Stadt einst verlassen hat und Jahre später wieder zurückkehrt, um das Haus seines verstorbenen Vaters auszuräumen. Er sieht, dass die Werft als Herzstück des Ortes schließen muss. Dann gibt es da noch Jackie White, den Vorarbeiter, der sich gemeinsam mit seinen Arbeitern in den Kopf setzt, noch ein allerletztes Schiff zu bauen, um die jahrhundertelange Tradition nicht sang- und klanglos untergehen zu lassen. „Die Werft war ein dunkler, gefährlicher Ort", erinnert sich Sting für den Podcast The Frame. „Viele erkrankten durch die Arbeit mit Asbest an Krebs." „Aber es gibt auch diesen großen Stolz und die Spiritualität", entgegnet der Moderator. „Ich selbst war dagegen auch nicht immun", antwortet Sting. „Es gab diese riesigen Schiffe, und Armeen von Menschen gingen und dienten diesen Schiffen."
„Am Ende ist nichts mehr übrig"
„The Last Ship" ist kein Jukebox-Musical, in dem einfach nur die Greatest Hits eines Künstlers in eine Handlung gepresst werden, sondern eines, das auch ohne Sting für sich selbst sprechen kann. Die Songs des am Broadway uraufgeführten Stücks stammen aus Stings Feder, einige der Lieder von „The Soul Cages" kommen darin vor, so auch „All This Time", aber es gibt auch viele neue Stücke zu hören. Sting beschreibt es als schwierigstes Unterfangen seiner Karriere, das Musical zu schreiben, sagt dann aber auch: „Es ist ein Wunder, zu sehen, wie deine Songs zu einer dreidimensionalen Realität mit Schauspielern und einer Kulisse werden." Eine richtige Hauptperson gibt es im Stück nicht, vielmehr geht es um den Zusammenhalt einer Gemeinschaft, deren Lebensgrundlage und Identität von einem auf den anderen Tag nicht mehr existieren soll. Sting sagt, er wolle damit die Community, aus der er kommt, endlich ehren, den Männern und Frauen eine Stimme geben, Geschichten aus ihrer Perspektive erzählen, von ihren Leidenschaften, Hoffnungen und Träumen berichten. „Es soll eine Show sein über die Arbeiterklasse, über die Menschen, die für ihre Stadt leben und die für sie sterben. Und sie nicht aufgeben", fasst er zusammen. „Das Stück ist leidenschaftlich, es ist emotional, es ist lustig und unterhaltsam. Aber ihm liegt auch das ernste Thema zugrunde, was mit einer Gemeinschaft passiert, wenn ihre Industrie von abstrakten Wirtschaftstheorien weggenommen wird. Damit verschwinden auch die Werte der Gemeinschaft. Am Ende ist nichts mehr übrig. Das ist es, was meiner Stadt passiert ist." Denn während der Nachkriegsboom dafür sorgte, dass es bis in die 70er-Jahre mit der Wirtschaft bergauf ging und auch der Seehandel immer weiter zunahm, folgte mit der ersten Ölkrise im Jahr 1973 eine Zäsur: Die Werften stellten sich auf dem internationalen Markt als nicht mehr konkurrenzfähig heraus. Die Zusammenlegung und spätere Privatisierung der Werften führte zum Niedergang vieler Schiffbauer und zur Verlegung des Marktes in den asiatischen Raum. Nicht nur England, sondern auch andere europäische Länder waren von solchen Werftenkrisen betroffen.
Sting ist ein Weltstar, der seine Wurzeln nicht vergessen hat. Besonders mit „The Soul Cages" und der Fortführung in Form der Theaterinszenierung von „The Last Ship" hat er seiner Heimat ein Denkmal gesetzt und damit stellvertretend auch all den Regionen, die durch den Strukturwandel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor große Herausforderungen gestellt worden sind. Übrigens: Das Musical floppte 2014 am Broadway. Ein Grund mag sein, dass es dorthin, in die Welt der bunten Lichter und des Luxus, genau so wenig gepasst hat, wie die Tradition der Werftarbeiter in die globalen Wirtschaftsinteressen.