Das „Jäger & Lustig" war früher „die" Wild-Gaststätte in der DDR. Diese Tradition hält Chef Sven Jahn mit frisch Erlegtem aus brandenburgischen Wäldern aufrecht und interpretiert Klassiker der deutschen Küche zeitgemäß und saisonal.
Die Hirschköpfe an den Wänden sind kubistisch, ein Zehnender schaut aus dem „Since 1989"-Logo heraus, die Speisekarte scheint an einen Holzstapel gepinnt zu sein. Unter dem Motto „Lecker, hausgemacht, regional" trifft im „Jäger & Lustig" Wild- und deutsche Küche an der Grünberger Straße, jenseits der Hipster-Demarkationslinie Warschauer Straße, auf zahlreiche Gäste, die Gerichte „wie früher" zu schätzen wissen. Küchenchef Sven Jahn vermittelt dieses wohlige „Früher"-Gefühl etwa mit Rinderrouladen und Ochsenschwanzsuppe, die stets geschmackssicher und mit zeitgemäßen Elementen kombiniert werden.
Klar, es geht schon um Wild. Schließlich war in dem 130 Plätze umfassenden Lokal bis zur Wende eines der wenigen, wenn nicht sogar „die" Wildgaststätte der DDR, weiß Betriebsleiter Ansgar Nicklas: „Es gibt viele Geschichten von der ‚Jägerklause‘. Man sagt, das Wild, das die ‚Politprominenz‘ in der Schorfheide geschossen hatte, wurde hier zubereitet und gegessen."
Veggie-Abteilung wird auch bedient
Gar so elitär geht es heutzutage in dem im Sommer 2019 von Alexander Freund übernommenen Restaurant nicht mehr zu. Wild steht bei allen Gästen hoch im Kurs. Jäger schießen es im Fläminger Forst; der brandenburgische Händler liefert dienstags und freitags, verrät Küchenchef Sven Jahn. „Unsere Gäste wissen, dass wir frisch kochen und am Sonntagabend mal etwas aus sein kann." Das „Jäger & Lustig" ist bei Familien beliebt und wird auch gern im größeren Kreis zum besonderen Anlass aufgesucht. „Dann wird Opas 80. Geburtstag gefeiert und man ordert ein Menü." Hirschkraftbrühe, Rehrücken und kalter Hund wissen zu überzeugen. „Neulich hat ein älterer Herr bei uns gefeiert und gesagt, es erinnere ihn immer an die Zeit, als er mit seiner Frau hierhin gekommen sei."
Ganz jetztzeitig gibt es neben den althergebrachten fleischlastigen deutschen Gerichten auch eine Veggie-Abteilung mit etwa geröstetem
Gemüsegulasch oder „Verbranntem Kohl" mit Haselnuss-Sauce und Pastinaken-Stampf. Die vegetarische Enkelin der 2000er-Jahre muss nicht am Salatblatt nagen. „Wir hatten sogar 60 Leute von einer Firma da, die alle Gerichte vegetarisch und vegan haben wollten", sagt Sven Jahn. Das trifft zwar nicht ganz das Profil vom „Jäger & Lustig", ist aber für das neunköpfige Küchenteam kein Problem. „Sie wollten gern bei uns im Laden sein."
Die kulinarische Freundin und ich starten tatsächlich mit den gelben Beten aus der Salat-Ecke und mit einer Altdeutschen Senfsuppe. Ersteres ist ein feiner Teller von Knollen-Achteln, Radieschen-Scheiben, Endivien- und Feldsalat. Die Vinaigrette ist eher süß abgestimmt und passt prima dazu. Bei der Suppe trieben uns Neugier und die Empfehlung von Gastgeberin Yvonne Thurow zur Bestellung. Suppe auf Senf-Basis und mit „Specknebel und Gemüsefäden" – das klang interessant. Den „Nebel" bilden gut geröstete und fein geschnittene Streifen vom durchwachsenen Speck; die Fäden sind vom Lauch. Zusätzliche Struktur in der gebundenen, ins Säuerliche tendierenden Suppe geben Senfsaat-Kügelchen. „Wir nehmen groben Bautzner Senf", erklärt Yvonne Thurow. Wer eine Scheibe Brot dazu isst, hat eine solide kleine Mahlzeit. Beim Plaudern und Warten auf die Hauptgänge im gut beheizten Wintergarten blicken wir auf einen kleinen Tannenwald. Wo im Biergarten sommers Bier und Wurst aus den Verkaufshütten zu den Tischen getragen und verzehrt werden, herrscht im Dezember Ruhe.
Zivile Preise bei allen Gerichten
Die Außenfläche bietet Platz für weitere 100 Gäste. Im Sommer 2019 startete der Betrieb im Biergarten. Erfolgreich. Er machte die Gäste neugierig auf das etwas später eröffnete Innenleben des nach dem Betreiberwechsel überarbeiteten „Jäger & Lustig". Viele von ihnen wurden Stammgäste. Bis zum ersten Lockdown im März 2020.
„Beim ersten und zweiten Neustart kamen glücklicherweise unsere Gäste wieder, weil sie uns kannten", sagt Sven Jahn. Die Lockdowns machten die beste Werbung für das Essen von den Profis: „Viele haben zu Hause selbst gekocht, aber gemerkt, dass sogar klassische Gerichte ein, zwei Stunden dauern und man dafür viele Zutaten benötigt. Das möchte man dann doch lieber nicht selbst machen." Positiver Nebeneffekt: „Es gibt nie Gemecker über unsere Preise."
Die sind sehr zivil: Rinderrouladen mit Rotkohl und Bratkartoffelpüree kosten 19,90 Euro, Veggies wie Senfeier mit Kartoffelstampf und Ofenmöhren starten bei 13 Euro. Ein rosa Rehrücken am Stück für zwei Personen, der sogar am Tisch tranchiert wird, liegt mit Speck-Rosenkohl und Salbeibutter-Schupfnudeln bei 59 Euro. Bei der Speisekarten-Lektüre läuft uns angesichts der winterlichen Auswahl das Wasser im Mund zusammen. Die Freundin und ich bleiben beide am Jägergulasch mit Bratkartoffelpüree hängen. Wer hat schon im Berliner Single- oder Zwei-Personenhaushalt einen gusseisernen Schmortopf und Kapazitäten, um Schwein und Rind, Zwiebeln, Paprika und Champignons 24 Stunden lang Saft und ein vollmundiges Aroma zu entlocken? „Gulasch lohnt unter zwei Kilo Fleisch nicht", weiß die Freundin.
Wir freuen uns über unsere deutlich bescheidenere, aber zum Teilen mehr als ausreichende Portion. Der Bratkartoffel-Stampf lässt würzig seine Herkunft erkennen, ist ordentlich gebuttert und mit Speck abgeschmeckt. Auf dem zweiten Teller erhalten wir ein Wildschwein-Filet, das so nicht auf der Karte steht: Zarte Scheiben mit rosa Pfefferbeeren und Meersalz-Körnern, einer intensiven Jus im Kännchen, ein paar Speck-Rosenkohl-Röschen und Bratkartoffeln. Köstliches Zeug! Wir nehmen noch ein und noch ein Scheibchen, einfach, weil es so gut schmeckt. „Voll die Fleischkompetenz!", sind wir uns einig.
Zum Abschluss einen Winterzauber
Eine erkleckliche Portion vom Jägergulasch landet schließlich in einer Doggy Bag. Wir sind nicht die einzigen, die den Rest mitnehmen – ein eindeutiges Kompliment für die Küche, die am Abend unseres Besuches mit vielen kleinen Weihnachtsessen mehr als gut beschäftigt war. Wir lassen unser Essen mit einem Weißburgunder Hensel & Gretel aus dem Barrique von Markus Schneider auf der weißen und einer Ursprung Cuvée vom selben Winzer auf der roten Seite begleiten. Für 8,90 Euro haben wir bewährte Pfälzer Qualität im 0,2er-Glas. Auf der Glas- und Flaschen-Karte finden sich einige Schneider-Weine, aber auch solche von Durbacher aus Baden –
unter anderem ein Klingelberger Riesling, ein Grauburgunder und ein Rosé, die in der 1,5-Liter-Flasche exklusiv für das „Jäger & Lustig" abgefüllt und für 38 Euro angeboten werden.
Zum Abschluss bricht der große „Winterzauber" aus. Schokopudding mit Mandeln, gebackene Erdäpfel, eine Kugel Bratapfeleis, Mutzenmandeln, kalter Hund, ein kandierter Mini-Apfel und Waffelherzen vereinen so ziemlich alles von der Dessertkarte auf einer großen Platte. „Und selbst gekaufte Dominosteine", verkündet Ansgar Nicklas lachend. „Die bekommt man selbst nicht besser hin." „Ich als westfälische Waffelkönigin finde die Herzen genau richtig", urteilt die Freundin:" Nicht zu fluffig, nicht zu kompakt, nicht zu braun." Die Mutzenmandeln, sonst eher alte Bekannte aus der Karnevalszeit, erfreuen uns sehr. Sie sind goldbraun ausgebacken, leicht mit Zucker überpudert, knusprig im Biss und mürb im Inneren. Als Solo-Dessert werden sie mit Zwetschgenkompott serviert. Die Freundin beißt beherzt in den rot glasierten Bonsai-Apfel hinein und ist überrascht vom ausgeglichenen Zusammenspiel von Süße und Säure: „Der Kleine schmeckt richtig nach Apfel." Vom kalten Hund bleibt kein Krümel übrig, auch so „wie früher": „Das war so richtig Kindergeburtstag."
Wir sind uns einig, dass uns spontan zwei, drei, vier Leute einfallen, mit denen wir gern ins „Jäger & Lustig" gehen würden – nicht zuletzt, um uns selbst weiter durch all die anderen Gerichte hindurch zu probieren. Beste Aussichten also für weitere Entdeckungen aus Omas Küche, die ganz ohne musealen Touch, aber immer mit einer überraschenden Extra-Umdrehung auf den Punkt und auf den Tisch gebracht werden.