Er ist einer der profiliertesten Darsteller seiner Generation. Ob auf der Bühne als Hamlet und Coriolanus oder in Filmen wie „Schindlers Liste", „Der englische Patient" oder in seinem neuen Film „The King’s Man – The Beginning": Ralph Fiennes ist immer ein Ereignis.
Mr. Fiennes, welche Qualitäten muss ein echter Gentleman unbedingt haben?
Ein Gentleman sollte – wie übrigens jeder Mann – selbstlos Verantwortung für die Menschen übernehmen, die ihm am nächsten stehen. Außerdem ist es für mich wichtig, wie sich jemand in der Öffentlichkeit benimmt. Und diese Haltung sollte nicht oberflächlich oder gar gekünstelt, sondern echt sein. Für einen echten Gentleman kommen seine Mitmenschen immer an erster Stelle, er selbst spielt sich nie in den Vordergrund. Das sollte die Essenz eines wahren Gentleman-Verhaltens sein. Ein Gentleman ist nicht selbstverliebt, sondern zuvorkommend. Er versucht, dass andere sich in seiner Gegenwart wohlfühlen.
Ein ziemlich hoher Anspruch. Qualifizieren Sie sich als Gentleman?
(lacht) Manchmal gelingt es mir durchaus, ein Gentleman zu sein – doch oft auch nicht. Aber wir können uns doch alle an diesem moralischen Kompass ausrichten. Leider gelingt es eher selten, diese Vorgaben zu erfüllen. Denn wir sind allesamt viel zu oft egoistisch und auf unseren eigenen Vorteil bedacht. Mich selbst zurückzustellen für das Wohl anderer – das ist allerdings eine Aufgabe, die ich immer öfter einlösen will.
Im Film spielen Sie einen lupenreinen englischen Aristokraten. Gibt es die heutzutage eigentlich noch?
Ja, tatsächlich, es gibt sie noch. Im Laufe meines Lebens sind mir ein paar dieser echten Aristokraten sogar persönlich begegnet. Menschen, die sich ihrer Verantwortung sehr bewusst sind. Natürlich gibt es auch unter Aristokraten fürchterliche Idioten, mit denen man so wenig Zeit wie möglich verbringen möchte. Aber es gibt eben auch jene, die in Familien mit großem Reichtum und Einfluss hineingeboren wurden und ihre Privilegien sehr sinnvoll nutzen. Die, wenn sie Grundbesitz geerbt haben, diese Ländereien wirklich pflegen und sich um den Erhalt der Natur kümmern. Oder die aus echtem Pflichtgefühl ihrer Gemeinde dienen. Die Zeiten, in denen die Aristokratie andere Leute unterdrücken und ausnützen konnte, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen, sind vorbei – Gott sei Dank. Heute ist man als Aristokrat seiner Familie zu Diensten, dann seiner Gemeinde, und schließlich auch seinem Land.
Regisseur Matthew Vaughn meint, das politische Klima unserer Zeit sei der Ära, in dem dieser Film spielt – also kurz vor und während dem Ersten Weltkrieg – sehr ähnlich. Teilen Sie seine Einschätzung?
Wenn ich die täglichen Nachrichten aufmerksam verfolge, dann stimmt mich das schon sehr pessimistisch. Denken Sie nur an die Spannung zwischen China und den USA. Taiwan und die Ukraine sind konstant militärischen Bedrohungen von China und Russland ausgesetzt. Dazu kommt die Flüchtlingskrise. Und das politisch extrem unstabile Klima im Mittleren Osten und obendrauf noch die Covid-Pandemie. Wenn ich außerdem an die fortschreitende Klimaverschlechterung denke und an die Angst der Menschen vor wirtschaftlichen Zusammenbrüchen, die Panik vor Armut und Arbeitslosigkeit … und an die Angst vor Überschwemmungen, Waldbränden, Dürren und anderen Katastrophen, die unsere Erde regelmäßig heimsuchen … Da glaube ich schon, dass wir heute sogar weitaus mehr Grund zur Sorge haben als die Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Im Film werden die Schrecken und die Tragik des Ersten Weltkriegs nahtlos in die Spielfilmhandlung integriert, sozusagen in Spaß und Action eingebettet. Ist das nicht problematisch?
Darüber haben wir während der Dreharbeiten auch diskutiert. Für einige Zuschauer wird das sicher ein Problem sein. Aber ich denke, dass Matthew das Andenken der Soldaten durchaus ehrt – und nicht etwa ins Lächerliche zieht. Er war sich meiner Ansicht nach der Tragödie des Ersten Weltkriegs voll bewusst. Andererseits werden ja reale Kriege und andere Katastrophen schon sehr lange als Hintergrundfolie für Spielfilme herangezogen. Die Frage ist doch: Was ist das Herz des Films? Für mich sind das die fantastischen Action-Sequenzen und der schwarze Humor. Abgesehen davon sind doch die historischen Fakten, um die sich die Story rankt, absolut akkurat. Ich finde, Matthew jongliert diese Dinge ganz gut. Ich bin gespannt, wie das Publikum den Film aufnimmt.
Die Message des Films ist die Sehnsucht nach unbefleckter Gerechtigkeit, nach unabhängigen Entscheidungsträgern, die nicht korrupt sind oder gekauft wurden. Das ist leider pures Wunschdenken …
Das sehe ich genauso. Diese Sehnsucht nach wirklicher Gerechtigkeit wird am Schluss des Films ausdrücklich artikuliert. Danach sehnen sich sicher viele Menschen in unseren problembeladenen Zeiten. Jedenfalls würde ich sehr gern Menschen erleben, die politisch viel Macht haben und sich trotzdem – oder gerade deshalb – fair und nicht korrupt verhalten.
Was ist für Sie beim Drehen eines Films unerlässlich?
Ein Filmset ist oft ein sehr chaotisches Umfeld. Da ist es für mich eminent wichtig, einen stillen Platz zu finden, an dem ich zur Ruhe kommen und mich sammeln kann. Es gibt so viele Dinge an einem Filmset, die sich gegen einen Schauspieler stellen. Da gibt es Leute, die dich verkabeln, dir Scheinwerfer ins Gesicht halten, und man muss ständig darauf achten, in welchem Winkel man agiert. Die Kamera kann einen auf der Leinwand mitunter sehr gut aussehen lassen – aber der Prozess bis dahin ist oft sehr mühsam und kontraproduktiv. Am Set muss ich in einem Bewusstseinsstand der absoluten Bereitschaft sein. Ich muss immer sofort alles abrufen können, was für eine bestimmte Szene von mir verlangt wird. Besonders schwierig ist das, wenn man eine emotional aufgeladene Szene spielen soll. Niemand, der nicht selbst Schauspieler ist, weiß, wie –
ich will jetzt nicht das F-Wort sagen – schwer das ist! Ich muss mich also vor Ablenkungen schützen. Da hilft es sehr, wenn ich mich in meinen Trailer zurückziehen kann. Oder mich wenigstes weit abseits des Geschehens auf einen Stuhl setzen kann, mit meinem Namen auf der Rückenlehne. Die Kunst guter Schauspielerei ist doch, in einem völlig künstlichen Umfeld Wahrheit zu kreieren. Und das ist verdammt schwer.
Sie sagten mal, als Schauspieler müssen Sie immer offen sein und Ihr Herz ausschütten. Und dass Ihnen das relativ leichtfällt – im wirklichen Leben aber leider sehr schwer. Warum eigentlich?
Wenn ich eine Rolle spiele, bin ich auf eine perverse Art beschützt. Das bin ja nicht wirklich ich, der da agiert. In einer Rolle fällt es mir also leichter, Dinge zu tun oder Sätze zu sagen, die ich im wirklichen Leben nie sagen und schon gar nicht tun würde! Das wäre sicher ein zu großer Schock für viele Leute. Im wirklichen Leben sollten wir alle doch bestimmte soziale Kompetenzen wahren. Als Schauspieler hingegen kann ich meinen Gefühlen freien Lauf lassen – was ich auch immer sehr auskoste. Denn da kann ich sehr viele Energien freisetzen. Ich glaube sogar, dass viele Menschen auch deshalb ins Kino gehen, weil sie da anderen Leuten dabei zusehen können, wie die über die Stränge schlagen und die wildesten Sachen machen. Das erfüllt, sowohl in der Komödie als auch in der Tragödie, eine kathartische Funktion.
Ralph Fiennes ist also zuerst Schauspieler – dann Mensch?
(lacht) So krass würde ich es nicht formulieren. Aber es stimmt schon, dass ich mit Leib und Seele Schauspieler bin. Das ist das Einzige, was für mich zählt. Meine Prioritäten sind da klar definiert: An erster Stelle steht der künstlerische Aspekt, die Herausforderung als Schauspieler, als Regisseur. Karrierepläne zum Beispiel sind mir absolut fremd. Mich interessieren vor allem die gebrochenen, komplizierten oder narzisstischen Charaktere, die größer sein wollen als die Rolle, die ihnen das Schicksal zuschreibt. Im richtigen Leben ist ja auch nicht alles schwarz oder weiß. Ich suche die Ambiguität, die Zwischentöne, die Schatten auf der Seele.
Glauben Sie an ein vorbestimmtes Schicksal? Oder ist das Leben nur eine Ansammlung von Zufällen?
Das ist eine schwierige Frage. Ich habe das Gefühl, dass manche Dinge im Leben durchaus vorbestimmt sind. Und dann gibt es die Zufälle. Ich denke, das Leben ist eine Mischung aus beidem. Aber letztendlich habe ich keine Ahnung. Was wir aber versuchen können, ist, immer im Hier und Jetzt zu sein. Und nicht in der Vergangenheit zu leben, in unseren Erinnerungen, unseren Versäumnissen, unserem Bedauern und in unseren Sehnsüchten, Wünschen und Hoffnungen. Denn das halte ich für illusorisch.
Sie sind das älteste von sechs Kindern und kommen aus einer echten Künstlerfamilie: Ihr Vater ist Fotograf, Ihre Mutter war Schriftstellerin und Malerin, Ihre Schwester ist Regisseurin ...
… meine jüngste Schwester ist Schauspielerin, mein Bruder Joseph Schauspieler, einer meiner Brüder Musiker und so weiter. Wir wurden als Kinder immer dazu angehalten kreativ zu sein. Vor allem meine Mutter hat uns gelehrt, die Welt mit offenen Augen zu sehen. Sie sagte immer: „Lasst euch nicht verbiegen, sondern hört auf eure innere Stimme." Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie ich mit 14 Jahren unbedingt Soldat werden wollte. Meine Mutter hat mir das nicht etwa verboten, sondern mich aufgefordert, mir eine Kaserne einmal von innen anzusehen. Als ich heimkam, war ich von der Idee ein für alle Mal kuriert.
Wenn Sie Ihr Leben Revue passieren lassen, was ist für Sie da am wichtigsten?
Ich hoffe doch sehr, dass es noch viel in meinem Leben geben wird, das mir sehr wichtig ist. (lächelt) Ich habe zwar schon die längste Zeit gelebt, bin aber noch voller Energie und Elan und habe auch noch viele Pläne, die ich verwirklichen will. Wenn ich zurückblicke, bin ich – was meine Karriere betrifft – erst einmal sehr dankbar. Ich habe wirklich sehr viel Glück gehabt. Aber das Wichtigste im Leben sind doch immer die persönlichen Beziehungen, die Menschen, mit denen man befreundet ist, die man liebt…
Nennen Sie doch bitte drei, vier Theaterstücke, die Sie als Menschen – nicht als Künstler – definieren.
Eine gute Frage. Denn die meisten Leute verwechseln den Menschen immer mit dem Schauspieler und den Rollen, die er gespielt hat. Doch ehrlich gesagt tue ich mir hier mit einer Antwort schwer. Ich kann Ihnen aber zwei meiner Lieblingsfilme nennen: „La Dolce Vita" und „12 Uhr mittags".
Ein Fellini-Film und ein Western-Klassiker – ein ziemlicher Spagat!
Ich weiß. Und was meinen Musikgeschmack betrifft: Da liebe ich Johnny Cash – und Bach. Sie sehen, ich bin immer für eine Überraschung gut.