Was für ein Brüderpaar! Der Italiener Simone Origone ist der erfolgreichste Speedski-Fahrer aller Zeiten. Aber den Weltrekord hält – mit 254,96 Stundenkilometern – sein Bruder Ivan, wenn auch denkbar knapp. Beide sind gewillt, diesen erneut zu übertrumpfen.
Dank Zeitmessstrecken und neuartiger Datenskibrillen kann jeder Freizeitfahrer am eigenen Leib erfahren, wie sich 50 Stundenkilometer auf Skiern anfühlen. Die meisten würden über das durchschnittliche Pistentempo wohl sagen: ganz schön schnell. Profisportler haben da freilich andere Dimensionen. Bei Weltcuprennen knacken sie regelmäßig die Hundertermarke, beim legendären Lauberhornrennen schaffen die Besten sogar um die 160 Stundenkilometer. Und selbst das ist noch langsam im Vergleich zu den Speedski-Fahrern, die in ihrer eigenen Liga (und ihren eigenen Rennen) fahren. Da sind Zeiten über 200 km/h die Regel und einer, der regelmäßig davon nach oben abweicht, ist der Italiener Simone Origone. Zwischen 2004 und 2021 gewann der mittlerweile 42-Jährige zwölfmal den Gesamtweltcup (2021 schaffte er Rang zwei) und sechs Goldmedaillen bei Weltmeisterschaften, zuletzt 2019. Damit darf er sich als mit Abstand erfolgreichster Speedski-Fahrer aller Zeiten bezeichnen.
Nächster Rekordversuch im März
Doch den bereits zweimal errungenen Weltrekord in puncto absolute Spitzengeschwindigkeit musste er auch zweimal wieder abgeben – jeweils an seinen sieben Jahre jüngeren Bruder Ivan. Beim letzten Mal schaffte dieser am 26. März 2016 im hautengen, aerodynamischen Rennanzug samt windschnittigem Helm, in Schussposition und mit weitem Beinabstand sagenhafte 254,958 Stundenkilometer. Neben der mentalen und physischen Stärke sowie den hochtechnisierten Spezialskiern half noch ein weiterer Faktor: ideale Schnee- und Temperaturbedingungen. Schließlich gelang am selben Tag Valentina Greggio ebenfalls ein bis heute ungebrochener Weltrekord: Mit 247,083 Sachen ist Origones Landsmännin die schnellste Skifahrerin der Welt. Da auch der Snowboard-Geschwindigkeitsrekord (203,275 km/h) auf dem „kilomètre lancé" aufgestellt wurde, will Simone Origone seinen nächsten Weltrekordversuch, vermutlich im März 2022, ebenfalls hier probieren. Und nicht nur er. „Wir beide werden versuchen", sagt Simone Origone im Interview, „den Weltrekord zu verbessern, aber wir haben klasse Konkurrenz: Zum Beispiel Simon Billy aus Frankreich oder Manuel Kramer aus Österreich. Einfach ist es als Bruderpaar auch nicht immer: Wir reisen zusammen, teilen uns ein Hotelzimmer, präparieren die Ski gemeinsam und sind doch Gegner."
Wobei für weitere Bestleistungen wirklich alles passen muss, insbesondere Wetter, Temperatur und Schnee. Der Januar und Februar scheiden da zum Beispiel im Vornherein aus, da es oft sehr kalt ist und die Schneekristalle kleiner sind – nicht optimal fürs Gleiten. Ab März, April, wenn es wärmer wird, halten die Kristalle mehr Wasser und sind größer. „Das erlaubt mir, schneller und mit weniger Vibration zu fahren", so Simone Origone. Und weiter: „Ich muss aber genau den Moment erwischen, in dem mittags die ersten zwei Zentimeter an der Oberfläche zu schmelzen anfangen. Das ist pro Tag ein Zeitraum von maximal 20 bis 30 Minuten. Mehr nicht."
Auch bezüglich möglicher Orte, an denen man überhaupt einen solchen Rekordversuch starten kann, herrscht nicht wirklich viel Auswahl. So gut geeignet wie die Chabrière-Piste im französischen Skigebiet La Forêt Blanche-Vars ist eigentlich weltweit keine andere, wenngleich überdurchschnittlich rasante Weltcuprennen auch in Schweden (Sälen, Idre Fjäll), der Türkei (Erzurum), Spanien (Formigal) und im französischen Arcs ausgetragen werden. Keine aber kommt an „die Chabrière" ran: Die absolut ebene Abfahrt überwindet auf 1.220 Metern Länge einen Höhenunterschied von knapp 450 Metern. Das Wichtigste aber wohl ist neben dem Aspekt, dass es wirklich keinerlei Unebenheiten auf der gesamten Strecke geben darf (die einem womöglich den Ski wegreißen würden), die Tatsache, dass diese gerade zu Beginn sehr steil verläuft, um eine entsprechende „Grundgeschwindigkeit" aufzubauen. Bei der „Chabrière" ist das so, der Anfangsbereich weist ein Gefälle von beeindruckenden 98 Prozent auf. Das wiederum führt zu einer Beschleunigung von 0 auf 200 Stundenkilometer in fünf Sekunden. Das ist fast so schnell wie ein Formel-1-Auto!
Material soll verbessert werden
Aber selbst wenn alle Bedingungen, vom Schnee bis zur Temperatur und Sonneneinstrahlung sowie die bestmögliche psychische und physische Verfassung des Skifahrers perfekt passen sollte, kann Origone sich lediglich minimale Speedverbesserungen vorstellen. „Große Steigerungen gibt es, wenn überhaupt, wohl nur noch durch die Entwicklungen neuer Technologien für Anzug und Ski." Wobei es gerade einmal einen einzigen Anbieter auf dem Markt gibt, der diese Art Ski – 2,38 Meter lang, extrem steif, kurze Spitzen – produziert. Da sich das potenzielle Kundenspektrum auf ein paar Dutzend Personen konzentriert, bleibt abzuwarten, ob hier noch weitere Anstrengungen unternommen werden, das Material signifikant zu verbessern. Eine Perspektive, sich hier verstärkt zu engagieren, wäre, wenn Speedskiing eines Tages olympische Disziplin würde. Doch nachdem die Demonstrationsdarbietung bei den Olympischen Winterspielen 1992 von einem tödlichen Unfall (wenn auch abseits der Speedstrecke) überschattet wurde, gab es seither nie mehr einen erneuten Versuch, auch bei den Spielen im Februar 2022 in Peking wird diesbezüglich kein neuer Anlauf unternommen werden. Im Gegenteil: Der zuständige internationale Skiverband stellte eine Geschwindigkeitsbeschränkung für Hochgeschwindigkeitsfahren bei FIS-Rennen auf: 200 km/h. Da kommen die Origones ja gerade erst so richtig in Fahrt.