Angesichts des XXL-Umbruchs gehen die deutschen Handballer bei der EM nur als Außenseiter ins Turnier. Doch genau darin liegt eine Chance – wie der Triumph von 2016 beweist.
Als klarer Außenseiter zu einer Europameisterschaft reisen und dann den großen Coup schaffen? Da war doch was?! Beim EM-Märchen vor sechs Jahren in Polen hatten die Experten den deutschen Handballern im Vorfeld auch keine Siegchance eingeräumt, am Ende wuchsen die „Bad Boys" aber über sich hinaus und sorgten für einen der größten und emotionalsten Triumphe in der DHB-Geschichte. Angesichts der Umstände ist es kein Wunder, dass in den Medien Parallelen zur aktuellen Nationalmannschaft gezogen werden. Auch das Team von Bundestrainer Alfred Gislason hat bei der EM in der Slowakei und in Ungarn (bis 30. Januar) kaum jemand auf dem Zettel – und genau darin liegt die Chance.
„Natürlich" sei ein Titelgewinn wie 2016 möglich, sagte Gislason, der in seinen über 40 Jahren im Handballsport schon viel größere Sensationen erlebt hat. „Aber", ergänzte der Isländer, „mit dieser Erwartung dürfen wir nicht in das Turnier starten." Gislason hat sich mit seiner jungen und neuformierten Mannschaft auf eine Herangehensweise der kleinen Schritte geeinigt. Mit jedem Tor, mit jeder gelungenen Parade, mit dem Sieg soll das Selbstvertrauen steigen, soll die Gruppe zu einer Einheit zusammenwachsen, soll der Glaube an das fast Unmögliche wachsen. So wie damals bei den „Bad Boys".
Doch viele Anführer von einst sind nicht mehr da. In Torhüter Andreas Wolff, den Rückraumspielern Julius Kühn, Kai Häfner und Simon Ernst sowie Kreisläufer Jannik Kohlbacher nominierte Gislason nur fünf Akteure, die sich vor sechs Jahren die EM-Krone aufgesetzt hatten. Ihm blieb auch keine andere Wahl, als auf die Jugend zu setzen. Zahlreiche Rücktritte wie die von Uwe Gensheimer und Steffen Weinhold sowie Absagen wie die von Henrik Pekeler, Paul Drux und Fabian Wiede haben einen XXL-Umbruch im Team unumgänglich gemacht. Groß jammern will Gislason deswegen aber nicht –
im Gegenteil. Er nutzt die Möglichkeit, um den intern ohnehin für notwendig erachteten personellen Neuanfang jetzt einzuleiten. Am Ende soll eine neue, möglichst goldene Ära stehen.
„Ich bin fest davon überzeugt, dass wir eine sehr spielfreudige Mannschaft sehen werden. Eine talentierte Mannschaft, die kämpfen und sehr energisch an die Sache gehen wird", sagte Gislason dem Sport-Informations-Dienst. Er prophezeite: „Wir werden positiv auftreten und Gas geben." Und noch etwas versprach der Bundestrainer: „Dass wir keine Momente in den Spielen verschenken wollen." Das soll man bereits im EM-Auftaktspiel am Freitag (14. Januar, 18 Uhr) in Bratislava gegen Weißrussland sehen. Danach folgen die Partien gegen Österreich (16. Januar, 18 Uhr) und Polen (18. Januar, 18 Uhr). Das Minimalziel ist das Erreichen der Hauptrunde. „Wir müssen ein gutes Gefühl in der Mannschaft herstellen und den Zuschauern zeigen, dass wir sie euphorisieren, dass wir Spaß machen", forderte der neue Kapitän Johannes Golla: „Wenn wir das schaffen, dann werden wir bei der EM auch nicht in der Vorrunde ausscheiden."
Zuletzt hatte man bei der DHB-Auswahl nicht immer das Gefühl gehabt, dass sich die nominierten Spieler wirklich alle vollauf reinhängen, dass da wirklich ein Team auf dem Parkett gemeinsam um jeden Zentimeter kämpft. Zumindest dieses Problem scheint behoben. Für Spieler wie Till Klimpke (23), Joel Birlehm (24), Julian Köster (21), Luca Witzke (22), Sebastian Heymann (23), Lukas Mertens (25) und Lukas Zerbe (25) ist die EM das größte internationale Highlight ihrer Karriere, entsprechend heiß sind die Turnier-Neulinge auf ihren Einsatz.
Golla ist der „logische Kapitän"
Auch der spätberufene Djibril M’Bengue brennt darauf, es seinen Zweiflern zu zeigen. „Ich freue mich auf die Riesenherausforderung. Eine Europameisterschaft zu spielen, ist ein großes Privileg", sagte der 29-Jährige, den Experten nach dem Wechsel nach Portugal (2018) bereits abgeschrieben hatten. Doch mit dem FC Porto holte M’Bengue zweimal das nationale Double – was mit dem Anruf des Bundestrainers während des Kaffeetrinkens belohnt wurde. „Ich war im ersten Moment ein bisschen perplex", gab der Rückraumspieler zu. Im deutschen Trikot bei einem Turnier aufzulaufen, sei für ihn eine große Ehre, die er mit Feuereifer und viel Demut angehen wolle: „Ich bin auch ein bisschen nervös, aber das gehört dazu." M’Bengue, der im kommenden Sommer zum Bergischen HC wechselt, hofft, dass die Öffentlichkeit der neuen Mannschaft eine Chance gibt. „Wir haben einen Kader mit einer Riesenqualität", meinte er, „man muss nicht über die reden, die nicht dabei sind, sondern den Fokus auf die legen, die dabei sind." Ähnlich sieht es sein Kapitän. Johannes Golla, der die Nachfolge von Gensheimer angetreten hat, will nicht mehr zurückblicken und den Ausgeschiedenen nachweinen. Er freut sich diebisch auf die neue Ära. „Das ist eine schöne Mischung", sagt der Kreisläufer der SG Flensburg-Handewitt über das deutsche EM-Team, in dem sich neben neun Debütanten auch Routiniers wie Wolff, Kühn und Kohlbacher befinden. „Es sind Spieler dabei, die international erfahren sind und auch schon Erfolge gefeiert haben. Und auch Spieler, die ihr erstes Turnier spielen", sagte Golla: „Die Vorfreude und die Hoffnung, dass sich daraus etwas entwickelt, sind groß."
Dabei wird es auch auf seine Qualitäten als Kapitän ankommen. Obwohl Golla selbst erst 24 Jahre zählt, ist er im Team aufgrund seiner sportlichen Leistungen und seines Führungsstils unumstritten. „Er ist von seinem Charakter und seiner Art der logische Kapitän", sagte Gislason über Golla, der für ihn auch sportlich über alle Zweifel erhaben ist: „Ein Weltklassespieler."
Der 1,95 Meter große und 112 Kilogramm schwere Athlet soll auf dem Parkett sein verlängerter Arm sein, weil er als Angriffs- und Abwehrspieler großen Einfluss aufs Spiel nehmen kann. Im Wettbewerb gilt Golla als Kämpfer, der Teamkollegen auch emotional mitreißen kann. In der Kabine schlägt er jedoch leisere Töne an. „Ich will den Mitspielern ein gutes Gefühl geben und jeden mitnehmen", sagte er: „Es ist ganz wichtig, dass jeder seine Rolle findet und einbezogen wird." Sportvorstand Axel Kromer ist sich sicher: „Er ist intelligent genug, um Gespräche zu initiieren und zu steuern." Auch dank Golla ist für Außenstehende ein neuer Teamgeist zu spüren, der das Team im Turnier bei ein wenig Spielglück weit tragen könnte. „Die Mannschaft hat super fokussiert auf dieses Event hingearbeitet", lobte Kromer: „Alle sind sehr froh, dabei zu sein." Die ungewöhnlich lange Vorbereitung habe zudem beim Teambuilding geholfen: „Wir konnten so noch mal alle Baustellen thematisieren, und die Jungs konnten sich auch noch mal besser kennenlernen. Das müssen wir weiter in jeder Einheit vorantreiben." Auch Gislason verspürt „eine gewisse Aufbruchsstimmung", die Vorbereitung sei von „Spielfreude und guter Stimmung" geprägt gewesen. „Ich freue mich sehr auf das Turnier und die Arbeit mit dieser neuen Mannschaft", sagte er.
Gislason ist nicht unumstritten
Das muss Gislason auch, denn diese Mannschaft wird er in den nächsten Jahren weiter begleiten. Der Isländer verlängerte einen Tag vor Heiligabend seinen Vertrag beim DHB vorzeitig um zwei zusätzliche Jahre. Er soll also auch bei der WM 2023 in Polen und Schweden sowie bei Olympia 2024 in Paris an der Seitenlinie stehen. Er sei sich sicher, „dass uns die weitere Entwicklung der aktuell sehr jungen und noch unerfahrenen Mannschaft viel Freude machen" werde. Doch die Voraussetzung dafür, betonte Gislason, sei „Zeit".
Die will ihm der Verband mit aller Macht verschaffen. Die Vertragsverlängerung vor der EM ist auch als deutliche Rückendeckung für Gislason zu verstehen, der als Bundestrainer noch nicht das große Glück gepachtet hat. Kurz nach seiner Ernennung zum Nachfolger von Christian Prokop hatte ihn der Corona-Lockdown ausgebremst, vor einem Jahr führte er eine von zahlreichen Absagen dezimierte DHB-Auswahl nur auf WM-Platz zwölf. Auch das Scheitern bei Olympia im Viertelfinale war keineswegs ein Empfehlungsschreiben für eine Weiterbeschäftigung. Hinzu kamen private Probleme. Als im Frühjahr 2021 Gislasons Frau Kara im Sterben lag, dachte er gar über eine Vertragsauflösung nach.
„Meine erste Reaktion war, ich rufe Axel Kromer an, kündige – und wir gehen dann nach Island und verbringen die Zeit, die Kara noch bleibt, gemeinsam in Island", sagte Gislason. Aber seine Frau brachte ihn von diesem Gedanken ab. Sie wusste: Ohne Handball wäre ihr Mann noch unglücklicher. Der Job gab ihm auch Halt, als seine geliebte Kara am 31. Mai an Krebs verstarb. „Ich arbeite sehr, sehr gern für Deutschland. Ich lebe auch in Deutschland. Ich will hier Erfolg haben", sagte Gislason, der in einem kleinen Dorf in der Nähe von Magdeburg in Sachsen-Anhalt seinen Lebensmittelpunkt hat.
Im Verband vertrauen sie auf die Erfahrung und das taktische Verständnis des Handball-Veterans. Doch ein Vorrunden-Aus könnte die Diskussion um Gislason neu entfachen.
DHB-Präsident Andreas Michelmann geht aber nicht davon aus, der frühere Bundesliga-Meistercoach sei genau „der Fels in der Brandung", den das junge Team nun „sehr gut gebrauchen" könne. Und Gislason sieht man die Vorfreude auf das Turnier mit der Rasselbande förmlich an. Die Mannschaft werde „von sich reden machen", versicherte er, die Motivation sei so hoch wie schon lange nicht mehr: „Die Spieler haben die Chance, sich in den Vordergrund zu spielen."
Aber auch bis zum EM-Titel? Die Chancen sind nicht besonders groß, andere Nationen wie Dänemark, Frankreich, Norwegen oder Spanien scheinen zurzeit in einer anderen Liga zu spielen. Aber als klarer Außenseiter in ein Turnier zu gehen, das war ja schon vor sechs Jahren ein sehr gutes Omen.