Russlands Nachbarn erkaufen sich durch Repression Scheinstabilität
Es waren verstörende Bilder, die aus dem zentralasiatischen Riesenland Kasachstan um die Welt gingen. Gewaltbereite Demonstranten stürmten Verwaltungsgebäude und plünderten Geschäfte. Die Polizei schlug brutal zurück und erschoss mehr als 160 Protestler. Rund 10.000 Menschen wurden festgenommen. Bürgerkriegsähnliche Kampfszenen verbreiteten sich in den sozialen Netzwerken.
Die zynische Bulldozer-Mentalität, mit der Präsident Kassym-Schomart Tokajew vorging, gehört zu den finstersten Kapiteln von Regierungsrepression. Tokajew sprach von einem „versuchten Staatsstreich" Tausender „Banditen" und „Terroristen", die aus dem Ausland dirigiert worden seien. Er erteilte seinen Sicherheitskräften den Schießbefehl.
Die Ausschreitungen überraschten auf den ersten Blick: Kasachstan ist ein reiches Land. Es zählt zu den wichtigsten Rohöllieferanten Deutschlands und der EU und verfügt über bedeutende Metalle für Hochtechnologien.
Es ist ein Gesetz der Serie: Autoritäre Regime sorgen durch massiven Druck von oben für Scheinstabilität, die aber mit Friedhofsruhe erkauft wird. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung köchelt unter der Oberfläche und bricht sich bei bestimmten Anlässen Bahn. Russlands Präsident Wladimir Putin hat nach der Ukraine und Belarus ein weiteres Problem in seiner Nachbarschaft.
Auslöser der Proteste war eine Verdoppelung der Preise für Flüssiggas, das in Kasachstan als Kraftstoff für Autos genutzt wird. Die Regierung hat bei der Subventionierung den Stecker gezogen und wollte Marktpreise einführen, ruderte dann aber wieder zurück. Da jedoch die Preise für Lebensmittel generell nach oben schossen und die Währung in den Keller rauschte, gingen die Menschen im ganzen Land auf die Straße.
Dahinter steckte nicht nur der Unmut über materielle Mängel, sondern auch die Wut über eine patriarchalische Herrschaft, die praktisch keinen Raum für Mitsprache der Bürger lässt. Der Langzeit-Autokrat Nursultan Nasarbajew war von 1990 bis 2019 Präsident und zog danach als Chef des Sicherheitsrates die Fäden. Nach dem Aufflammen der Unruhen trat er am 5. Januar zurück.
Er hinterlässt ein Land, das von Korruption durchdrungen ist und dessen politische Eliten schamlos in die eigene Tasche gewirtschaftet haben. Daran hat sich auch unter seinem Nachfolger Tokajew nichts geändert.
Dass der Staatschef angesichts der Gewaltwelle im Land Hilfe von außen anforderte, ist an sich legitim. Ein regionales Sicherheitsbündnis unter Führung Russlands, dem ehemalige Sowjetrepubliken wie Kasachstan und Belarus angehören, entsandte „Friedenstruppen" mit mehr als 2.000 Soldaten.
Der Westen wäre für die Stabilisierung der Lage in Zentralasien die falsche Adresse. Weder würden die UN Blauhelmsoldaten schicken, noch würden Amerikaner oder Europäer eingreifen. Sie können allenfalls appellieren und mahnen.
Theoretisch bietet die Kasachstan-Krise eine Chance für Putin. Er könnte aufgrund seines Gewichts in der Region dafür sorgen, dass sich die Situation dauerhaft entspannt. Das Problem: Der Kremlchef fühlt sich als Garant des Status quo – egal, ob in Kasachstan, Belarus oder Syrien. Die Beibehaltung etablierter Machtstrukturen geht ihm über alles.
Dass die Bevölkerung durch eine Politik der eisernen Faust unterdrückt wird, nimmt er in Kauf. Dabei wird der Präsident auch von der Angst getrieben, dass Demonstrationen und die Forderung nach mehr Freiheit auf Russland übergreifen könnten.
Mit der Abkommandierung von Soldaten können Putin und seine Verbündeten kurzfristig verhindern, dass die Spannungen in Kasachstan in Gewaltexzesse und Anarchie münden. Seit Dienstag hat das Land eine neue Regierung. Aber die Ruhe ist trügerisch. Langfristige Stabilität entsteht dadurch nicht.
Dazu bedarf es einer zumindest schrittweisen Öffnung für demokratische Institutionen, politischer Teilhabe und einer gerechteren Verteilung des Reichtums. Das wiederum liegt nicht in Putins Logik. Russland werde keine „bunten Revolutionen" in ehemaligen Sowjetstaaten zulassen, verkündete der Präsident. Mit dem Begriff beschreibt der Kreml seit den 2000er-Jahren vermeintlich vom Westen initiierte Aufstände im ehemaligen Machtbereich der UdSSR, darunter auch die „orangene Revolution" in der Ukraine. Putin hat eine neue Eiszeit eingeläutet.