Die Corona-Krise wirkt sich auf jeden von uns aus. Während die meisten vor allem die Nachteile sehen, begegnen manche den neuen Herausforderungen positiv. Der Fachpsychologe für Klinische Psychologie und Psychotherapie Ralf-Raffael Brentano gibt Einblicke in gesellschaftliche Erkenntnisse.
Herr Brentano, auf meinem Weg zu Ihrer Praxis erlebte ich eine unschöne Situation mit einer Radfahrerin und einem Fußgänger. Er pflaumte sie an, weil sie auf dem Bürgersteig fuhr, sie zickte zurück. Aggression lag in der Luft. Nimmt so was durch die Corona-Krise zu?
Generell ja, doch sind die Probleme ganz unterschiedlicher Natur. Vor Ihnen war eine krebskranke Mutter hier, die gerade maximalen Stress erlebt. Sie muss arbeiten gehen, kochen und ihre Kinder zu Hause unterrichten, während ihr Mann Raum fürs Homeoffice benötigt. Sie hat daheim also gar keinen Rückzugsort.
Die einen stehen unter Stress, während andere Menschen zunehmend vereinsamen?
Ja. Der soziale Zusammenhalt ist sehr brüchig. Bei vielen Menschen findet ein enormer Rückzug in ihre Schutzhülle statt, also in die persönliche oder familiäre Blase. Diesen individuellen Raum empfinden sie als noch kontrollierbar, während ihnen in anderen Bereichen die Kontrolle zunehmend entgleitet. Und viele begegnen anderen Menschen immer häufiger mit Misstrauen. Dadurch kommt es zu Pseudokontakten und Kontaktarmut im vermeintlichen Kontakt, während man sich gleichzeitig nach Nähe sehnt. Eine starke Gegensatzspannung, die integriert werden will und unheimlich viel Kraft von jedem abverlangt.
Was ist das?
Der alte Teil in uns freut sich, Verwandte, Freunde und Bekannte zu treffen. Gleichzeitig redet einem die Vernunft ein, auf Impfungen und Maske tragen zu achten. Dadurch kommt es zu einem Bruch im emotionalen Kontakt. Der Kontakt nährt nicht mehr. Zur ständigen Angst, einen anstecken und umbringen zu können, kommen bei manchen auch Ängste wie jene vor einer Denunzierung durch Nachbarn, die einen verpfeifen, weil man mehr Personen als erlaubt trifft. Solche Fälle gab es reichlich. Das lässt tief den kollektiven Schatten erkennen. Mir persönlich wurde dabei unheimlich, und ich bemerke seither eine stark erhöhte Wachsamkeit für soziale Geschehnisse.
Welche konkreten Folgen der Corona-Einschränkungen begegnen Ihnen durch Ihre Klienten?
Oft sind die Kinder der Blitzableiter für Eltern, die sich durch die aktuelle Situation in die Enge getrieben fühlen. Manche erleben Gewalt bis hin zu sexuellem Missbrauch. Die Eltern wiederum leiden unter Symptomstress und werden depressiv, weil sie zum Beispiel das Schlagen ihrer Kinder hinterher sehr bedauern und ihrer Rolle als Vater oder Mutter nicht gerecht werden. Auch die Bereitschaft von Paaren, in Beziehungen zu bleiben, sinkt. Doch die Wohnungsnot in Großstädten wie Berlin verhindert so manches Trennungsbegehren. Man bleibt also weiter aufeinander hocken. Die immer weiter um sich greifenden Spaltungen erreichen die Schutzräume der Menschen, also den letzten Zufluchtsort. Und dort fühlen sie sich digital verwaltet.
Das klingt ziemlich drastisch. Welche Folgen beobachten Sie noch?
Ja, das ist es. Ein weit häufigeres Phänomen ist das bedrückende Gefühl äußerst vieler Menschen, sich derzeit wie unter einem Helm oder einer Glocke zu befinden. Übrigens geht es Behandlern wie mir ähnlich wie den Klienten: Wir haben noch keine Konzepte für diese Krise und müssen uns erst einmal selbst positionieren, um zu verstehen, wie wir damit umgehen. Vielen Menschen aus den Heilberufen einschließlich Ärzten und Psychologen geht es nicht gut. Manchmal fühlt es sich wie eine soziale Kernschmelze an. Wir müssen unbedingt stabil bleiben und zeitgleich unser eigenes Leid bewältigen. Die Abgrenzung fällt schwer. Es entstehen Kollusionen zwischen Behandler und Patient, das heißt es kommt zu einem unbewussten Zusammenspiel und man lässt sich gegenseitig an gewissen wunden Punkten in Ruhe, an denen es notwendig wäre zu sprechen. Die Therapien geraten ins Stocken. Wir arbeiten alle am Limit, wie unsere Patienten auch.
Was hat das Helm-Gefühl zur Folge?
Ich beobachte einen massiven Motivationsverlust, die Kreativität sinkt, und auch weniger Start-ups werden gegründet, weil den Leuten Hoffnung und Perspektiven fehlen. Ich vermisse seitens der Politik tiefe emotionale Ansprachen und eine gewisse Führung durch diesen schweren Prozess. Dazu bräuchte es allerdings Integrationsfiguren. Wir brauchen moderne Ritualleiter, die die Gefühle der Menschen erreichen und in Worte fassen, also Menschen, die Hoffnung und Perspektive vermitteln können, um die kollektive Depressivität zu lockern.
Was ist mit den Aktiven, sich immer wieder selbst beweisen müssen?
Die aktuelle Krise ist ja der Super-GAU für narzisstisch veranlagte Menschen, die sich für wichtiger und wertvoller einschätzen als ihr Umfeld, die gern Wellen schlagen und andere Leute beeindrucken möchten. Keine Rauschkäufe, keine Luxusreisen um die Welt? Das führt zu Selbstwertstörungen und geht an die Substanz. Das kann bis hin zu Paranoia und Selbstmordgedanken führen. Das habe ich gerade bei dem Chef einer Firma erlebt, die durch krisenbedingte Umsatzeinbußen in finanzielle Schwierigkeiten geraten ist. Manch großer Individualist oder Narziss bekommt jetzt überhaupt erstmals eine Vorstellung davon, von einem Kollektiv abhängig zu sein. Die Kontrolle über andere geht verloren. Das bereitet erst mal Angst und Hilflosigkeit. Es folgt oft der depressive Rückzug oder der aggressive Ausbruch.
Andere Meinungen gelten zu lassen, fällt vielen Leuten heute schwerer als früher, oder sie sind ihnen gegenüber gleichgültig. Nimmt die Selbstbezogenheit zu?
Ich denke, dass dies eine Folge des gespürten kollektiven Kontroll- und Orientierungsverlustes sein könnte. Jeder versucht, diesem durch vermehrte Selbstkontrolle zu entgehen, um sich noch zusammenzuhalten. Es werden durch die Isolation bedingt auch zunehmend eigene Interpretationen für wahr gehalten, ohne eine empirisch-logische Beweisführung zu tätigen, also zum Beispiel die Frage zu stellen: „Wo ist der Beweis, dass es so ist, wie ich es gerade denke?" Diese Frage würde die meisten wiederum in eine erneute Unsicherheit führen, die sie ja gerade vermeiden wollen. Ein Kreislauf, aus dem man ohne fachliche Hilfe schwer wieder herauskommt. Die inneren subjektiven Überlebensregeln werden durch den spezifisch-unspezifischen äußeren und inneren Dauerdruck extrem strapaziert.
Und gibt es ihn nun, einen neuen Egoismus?
Ich halte die Menschen nicht grundsätzlich für egoistisch, denn sie möchten ja Kontakt, jedoch nur zu den jeweils selbst festlegten Sicherheitsbedingungen. Das könnte sich letztlich zu einer immer weiter ausgefeilten privaten Selbst- und Weltlogik entwickeln und auch dahin, dass es mehr Verständigungsschwierigkeiten geben wird. Sie hören sich im Gespräch und fragen sich, warum sie den anderen zwar hören, aber emotional nicht erfassen können. Eine entleerte, sinnfreie Begegnung ist die Folge. Höflichkeitsfloskeln werden ausgetauscht. Fällt das alles auf bereits tieferliegende und vor der Krise vorhandene Störungen im seelischen Bereich, zum Beispiel im Bereich der narzisstischen Störungen, kann es sich zu extremer und sichtbarer Selbstbezogenheit auswachsen, aber auch zu starkem Rückzug und Depression kommen.
Was kommt in der aktuellen Situation des Wandels sehr häufig bei Ihnen vor?
Die Menschen sind sehr dünnhäutig geworden und sehr oft fühle ich so etwas wie eine unterschwellige Abschiedstrauer. Sie fühlen, dass die nächsten Jahre enorm anstrengend für sie werden. Sie wissen auch, dass es jetzt um alles geht: um das Überleben der Menschheit. Viele schauen weg, etliche schauen hin und es entstehen unterschiedliche Argumentationsstränge, die oft nicht mehr zu vereinen sind. Konsens wird immer schwieriger. Gewaltausbrüche sind die Folge. Verstehen müssen wir als Gesellschaft, dass wir den Wandel nicht aufhalten können, sondern ihn mit unserer Schwarmintelligenz sozialproduktiv gestalten müssen.