Kaviar, also Fischeier, sind seit Jahrtausenden sowohl Luxusspeise als auch Arme-Leute-Essen. Vorbei an Karpfen, Äschen, Lachsen und Forellen haben sich die Störe in der Edel-Rogen-Liga ganz nach vorn gekämpft. Währenddessen hat man sie fast ausgerottet. Viele leben jetzt in Farmen – wie etwa bei Grüll in Salzburg.
Wie kleine Perlen schimmern die silbergrauen Kügelchen im Bauch des Sibirischen Störs. Jede nur stecknadelkopfgroß, hängen sie zu vielen Tausenden an dünnen Häutchen aneinander. Vorsichtig mit beiden Händen hebt Patrick Grüll den länglichen Klumpen aus dem frisch geschlachteten, knapp einem Meter langen Tier. „Da lacht das Herz", freut sich der junge Koch und Züchter. Zusammen mit seiner Familie produziert er in Grödig bei Salzburg neben anderen Fisch- und Meerestierspezialitäten Österreichs berühmtesten Kaviar.
Ursprünglich waren Störe in vielen Gewässern der Nordhalbkugel beheimatet. Durch rücksichtslose Überfischung wurden die schwimmenden Wanderer, die meist in Meeren leben und zum Laichen in die Flüsse ziehen, fast ausgerottet. Seit 2006 ist der Import von Wildkaviar verboten. Für gleichwertigen Ersatz sorgen heute Farmen. Eine davon ist die Firma Grüll.
Die Seltenheit bestimmt den Preis
Behutsam – so wie eben rohe Eier – bewegt Patrick den edlen Rogen unter fließend klarem Wasser mit kreisenden Bewegungen über eine Lochplatte aus Edelstahl. Indem er sie sachte durch die Öffnungen drückt, trennt der 32-Jährige die feinen Körner voneinander wie auch von ihrer schützenden Membran. Verbleibende Haut- und Fettreste werden abgesaugt und weggespült.
Während die gereinigte „Ernte" bereits im Sieb abtropft, kontrolliert der Fachmann noch einmal mit scharfem Blick, geschickten Fingern und Pinzette, ob auch alle Kügelchen in Größe, Form und Farbe der gewünschten Qualität entsprechen. „Passt perfekt", urteilt er zufrieden. Trotz Gründlichkeit geht alles ziemlich schnell. Damit der Kaviar nicht quillt, wird er direkt nach dem Reinigen gesalzen. „Das entzieht ihm Feuchtigkeit und macht ihn haltbar", kommentiert Patricks Vater Walter Grüll.
Der Seniorchef und Firmengründer, heute 59, hatte schon mit zwölf Jahren Erfolge in der Zucht von Speisefischen. Das Hobby wurde sein Beruf. Mit Forellen fing er an. Richtig los ging es 1988, als der Salzburger Professorensohn seine Liebe zu den Stören entdeckte. 14 Jahre später konnte er – als erster in Österreich – selbst erzeugten Kaviar verkaufen. „Bis ein Störweibchen geschlechtsreif wird und Eier produziert, vergehen je nach Spezies bis zu 16 Jahre", erklärt Walter Grüll.
Das Besondere an seiner Zucht ist der hohe Anteil an Albino-Stören. Komplett pigmentlos, sind diese Tiere nicht nur selber weiß. Auch die weiche, dünne Schale ihrer Eier ist völlig ohne Farbe, so dass ihr Inneres zu sehen ist. Das erklärt, warum der weiße Kaviar in Wirklichkeit hellgelb erscheint. Der Mais, dem er tatsächlich farblich ähnelt, findet sich witzigerweise neben fruchtigen Aromen auch als eine seiner typischen Geschmacksnoten wieder.
Den Preis bestimmen jedoch nicht Textur und Qualität, sondern vor allem seine Seltenheit. Denn von den mehr als 400 Tonnen Kaviar, die 2019 weltweit erzeugt wurden, stammen von Albino-Stören nur ein paar Kilogramm. Ein einziges davon kostet bei Grüll 15.000 Euro, auf dem Weltmarkt bis zu 65.000 Euro. So teuer wie der weiße Kaviar ist kein anderes Lebensmittel.
Fischeier zu essen hat eine lange Tradition. Dass die mindestens bis in die Steinzeit zurückreicht, belegt eine interessante Entdeckung von Forschern des Max-Planck-Instituts. In einem 6.000 Jahre alten Keramikgefäß, das in Brandenburg gefunden wurde, identifizierten sie Speisereste als gekochten Karpfenrogen. Dieser wird in einigen Regionen noch heute als Delikatesse geschätzt – wie etwa im Karpfenland Franken. Wie auch der Milchner (Sperma) der männlichen Fische wird er dort gebacken oder gebraten und als Ingreisch (Innereien), zum Beispiel zusammen mit Pellkartoffeln, Zwiebelringen und Apfelmus serviert.
Im pharaonischen Ägypten aß man den frischen Rogen von Meeräschen oder salzte, trocknete und presste ihn zu Batarak. Bis heute liebt man diese Leckerei am ganzen Mittelmeer – in Italien als Bottarga. Die japanische Version heißt Karasumi.
Vor fast 2.400 Jahren schrieb der Grieche Aristoteles von opulenten Festen, wo sich der Laich von Stören auf den Tafeln türmte. In Westeuropa blieb das Fleisch der urtümlichen Meer- und Flussbewohner lange Zeit den Herrschern vorbehalten. Die Eier waren Hühnerfutter, allenfalls ein Arme-Leute-Essen – wie fast überall. Mangels Kühlung oder Konservierung verdarb die nährstoffreiche Innerei sehr schnell, sodass sie fast ausschließlich frisch und von den Fischern selbst genossen wurde. Nur im hohen Norden überließ man sie den Schlittenhunden.
Ob man tatsächlich Rogen jeder Fischart ausprobiert hat, um schließlich den der Störe zum vornehmsten und schmackhaftesten zu krönen? Wie auch immer: Die ungelegte Brut der urzeitlichen Knochenfische, die über fünf Meter lang und 150 Jahre alt werden können, gilt als das Nonplusultra luxuriöser Gaumenfreuden.
Mutterländer der modernen Kaviarkultur sind Persien (heute Iran) und Russland. Unter Iwan dem Schrecklichen schafften es dort im 16. Jahrhundert zunächst bernsteinfarbene Hechteier auf die kaiserliche Tafel. Ihnen folgte, mit der Ausbreitung des Zarenreiches bis zum Kaspischen und Schwarzen Meer, schließlich auch der schwarze, graue und golden-braune Kaviar der Beluga-, Ossietra- und Sevruga-Störe.
Langsam im Mund zergehen lassen
Das wohl ursprünglich aus Persien stammende Wort Kaviar wurde durch viele Sprachen geprägt, unter anderem durch Türkisch und Italienisch. Laut internationalem Lebensmittelkodex darf damit nur der Rogen von den Stören bezeichnet werden. Im Russischen spielt das keine Rolle. Alle „echten Sorten", also die vom Stör, heißen dort tschjornaja ikra (wörtlich: schwarzer Rogen oder Laich). Die Lachs-Version in Rot – krasnaja ikra – zog mit Sibiriens Eroberung in Russlands Adelsküche ein.
Stets in großen Mengen aufgetischt, stand Kaviar – ob schwarz, ob rot – für Wohlstand, Macht und Exklusivität. Einen Hauch von prickelnder Magie verlieh ihm obendrein sein Ruf als Aphrodisiakum. Dass der Ruhm der legendären Liebesperlen ins übrige Europa drang, soll ein Verdienst des Kochs Marie-Antoine Carême (1784–1833) gewesen sein. Der Pionier der Haute Cuisine war bei seinem Aufenthalt am St. Petersburger Hof des Zaren so entzückt von dessen Lieblingsspeise, dass er den Kult um sie in seiner Heimat Frankreich etablierte. Von Paris aus feierte der Kaviar den Einzug in die High Society des Abendlandes.
Immer größer wurde der Bedarf. Bald hatte Westeuropa kaum noch Störe. Der meiste „russische Kaviar", den man hier verspeiste, kam bereits am Ende des 19. Jahrhunderts aus Nordamerika. Dort gab es zu jener Zeit so viel davon, dass einheimische Kneipenwirte ihn als Salz-Snack nutzten, um den Bierkonsum ihrer Gäste zu fördern.
Gleichfalls Überfischung wie auch der Bau gewaltiger Wasserkraftwerke reduzierten im Verlauf des 20. Jahrhunderts auch die Stör-Bestände im Iran und der Sowjetunion. 1998 wurden alle 27 Arten unter Schutz gestellt. Der Handel mit Kaviar aus Wildfängen ist heute strafbar. Dennoch schätzt man, dass er viele Male größer ist als der legale Markt.
Bei Grüll in Grödig kann man tatsächlich sehen, wie hochwertiger, frischer Kaviar gemacht wird – und im Bistro direkt probieren. Chef Walter selbst mag ihn pur am liebsten – nur mit etwas Weißbrot und einem edlen Wodka.
Gut schmeckt er auch mit anderen einfachen Dingen wie Kartoffeln oder Hühnereiern, und natürlich – klassisch russisch – auf kleinen Eierpfannkuchen aus Buchweizenmehl (Einzahl: Blin, Mehrzahl: Bliny) mit etwas Sauerrahm und Dill.
Statt aus Metall sollte der Löffel für die gekühlte Köstlichkeit stets aus Kunststoff, Perlmutt oder Holz sein. Kenner legen sie sich damit löffelweise auf den Handrücken, um sie von dort – bei Körperwärme – in den Mund zu nehmen und langsam zwischen Zunge und Gaumen zergehen zu lassen. Diesem einzigartig tollen Essgefühl folgen wahre Wellen von Aromen. Vielleicht ist deshalb Kaviar die schönste und befriedigendste Art, den Zauber und die Kraft von Meer und Flüssen in sich aufzunehmen.