Vor einem Vierteljahrhundert wurden der ehemalige Hamburger Bahnhof und die Rieck-Speditionshallen zum zeitgenössischen Kunstmuseum. Zwei Jubiläumsausstellungen werfen einen Blick auf aktuelle Positionen in Europa, den USA und Asien.
Beim Öffnen des Garderobenschließfachs im Berliner Museum Hamburger Bahnhof begrüßt mich ein Aufkleber: „Es muss wieder weniger Kunst geben." Ganz offensichtlich kein Teil der aktuellen Präsentationen, regt er doch einen Gedankengang an. Mich erwarten zwei Sonderausstellungen, rund 100 Werke von fast so vielen Kunstschaffenden – ist das zu viel? Wird der Besucher im Museum für Gegenwart überfordert?
Die historische Haupthalle des ehemaligen Bahnhofs gestaltet sich zunächst „aufgeräumt". Man wollte mit sparsamen Mitteln ohne visuelle Opulenz arbeiten, obwohl es sich doch um eine Schau zum 25. Geburtstag des Hauses handelt. „Church for Sale", so der Titel, weist auf den Verkauf von öffentlichen Räumen hin, hier am Beispiel der vom finanziellen Bankrott bedrohten Stadt Detroit. Edgar Arceneaux heißt der 1972 geborene Künstler, der mit sechs eher unscheinbaren Aquarellen die Immobilien-Verkaufsschilder der Gotteshäuser porträtiert hat. Der Gedanke dahinter: Hier geht gemeinschaftsbildender Versammlungsraum verloren. Und Kunst, als gesellschaftlicher Ausdruck, muss so etwas thematisieren.
Was uns Kunst im Alltag zu sagen hat
Der Anspruch der Ausstellung besteht also in der politischen Dimension von Kultur. Und damit beschäftigen sich Künstlerinnen nicht erst seit den 1960er- Jahren, mit denen die Sammlung in diesem Museum beginnt. Die Kuratorin und Leiterin des Hauses, Gabriele Knapstein, mischt Objekte aus der Sammlung der Nationalgalerie (zu der der Hamburger Bahnhof gehört) mit Werken aus der Haubrok Foundation. Die gezeigten Künstler gehören verschiedenen Generationen an. Die verbindende Klammer sind jedoch ihr minimalistischer Zugang, die serielle Anordnung und die elementaren Formen, die sie verwenden.
So schuf der älteste gezeigte Künstler, Siah Armajani (1939 – 2020), die „Glass front porch for Walter Benjamin". Das Werk weist auf die Flucht vor den Nationalsozialisten und das Exil des deutschen Philosophen hin. Auch Armajani wanderte 1960 aus dem Iran in die USA aus. Seine Struktur aus Glas und Metall erinnert an eine typisch amerikanische Veranda, doch ist eine irritierende Lokomotive darauf gesetzt. Aktuelle Flüchtlingsströme bildet Alfredo Jaar (geboren 1959) in seiner leuchtenden Wandinstallation ab. In „(Kindness) of (Strangers)" illustrieren Neonpfeile die Migrationsbewegungen des Jahres 2015. Wie der Titel andeutet, sind die Verfolgten auf die Freundlichkeit von Fremden angewiesen.
Objekte aus der Perspektive behinderter Menschen
Interessant ist die selten aufgezeigte Perspektive von Kunstschaffenden mit Handicaps. Die New Yorker Künstlerin Park McArthur (geboren 1984) nimmt die Welt aus dem Rollstuhl wahr und montiert ganz einfach zwei Rampenstoßfänger aus Gummi an die Wand. Die Puffer „Passive Vibration Durometer Facts 8" befinden sich konsequenterweise unterhalb der üblichen Augenhöhe. Eine weitere Arbeit von McArthur mutet wie eine schlichte Schriftgrafik an: Sie zeigt die Markierungen von Spirometern – Diagnoseinstrumenten zur Messung des Luftvolumens. Park McArthur ist aufgrund ihrer chronischen Immunerkrankung auf Atemtraining angewiesen.
Auf gegenwärtige Diskurse geht auch Santiago Sierra (geboren 1966) ein, indem er vier große Plastiksäcke aus dem Baumarkt präsentiert, die mit jeweils einem Kubikmeter Erde von der iberischen Halbinsel gefüllt sind. Das Material stammt aus Spanien und wurde bei Bautätigkeiten ausgehoben. Man kennt die Problematik der Gentrifizierung inzwischen weltweit, aber gerade der Süden Europas wird zugunsten einer reicheren Schicht ausverkauft. Die Einheimischen verlieren damit Lebensraum, Selbstbestimmung und letztlich auch nationale Souveränität. Der Gedankenschritt zu moderner Kolonisation ist nicht weit.
Aber auch im eigenen Land kann man „ausgeschlossen" werden, wie das Künstlerduo Claire Fontaine aufzeigt. Ihr „Passe-Partout (Aspen)" aus dem Jahr 2000 ist ein hingeworfener Schlüsselbund mit Universalwerkzeugen und Souveniranhängern – hier aus dem US-amerikanischen Nobel-Skigebiet Aspen. Dies sei die reichste Stadt der Vereinigten Staaten, informiert das Büchlein zur Ausstellung, 2019 mit einem Durchschnittswert von 4,4 Millionen US-Dollar für ein Haus. Die Corona-Pandemie mit ihrer Stadtflucht heizte die Immobilienpreise noch weiter an. Diese über 20 Jahre alte Arbeit, die die Auswüchse sozialer Ungleichheit anprangert, hat also an Brisanz zugenommen.
Viel Raum für eigene Interpretation
Eine weitere Installation weist darauf hin, dass die freie Bewegung des Individuums im Raum eingeschränkt ist – auch wenn demokratische Verfassungen etwas anderes behaupten. Es handelt sich um „18 Boxes", eine postminimalistische Skulptur von Rodney McMillian (geboren 1969). 18 längliche Kartonschachteln, die ganz bewusst an Särge erinnern sollen, füllen den zentralen Bereich der Halle. Das heißt, der Besucher kommt nicht so leicht an ihnen vorbei. Der schwarze Bildhauer aus Los Angeles denkt dabei an die Black-Lives-Matter-Bewegung und die durch Polizeigewalt ums Leben gekommenen People of Color. Die Zahl 18 hat er gewählt, weil junge Menschen ab diesem Alter offiziell als erwachsen und wehrtauglich gelten.
Vom gleichen Künstler stammt auch „Double Jesus", zwei identische Motive aus einer als Meterware produzierten Decke. Die sakrale Ikone des vor der Kreuzigung am Ölberg betenden Jesus wird so aus dem religiösen Zusammenhang herausgelöst und durch die Vervielfältigung entwertet. Mehrere der 26 Arbeiten in der Ausstellung äußern Kapitalismuskritik. Jedes Werk steht für sich, aber alle zusammen bilden eine Gesamtschau der Weltlage. Die Konzeptkunst lädt dazu ein, innezuhalten und seine eigene Interpretation zu finden. In „Church for Sale" ist das gut gelungen.
Begegnung mit Kunstpositionen aus Asien
Die zweite Schau, „Nation, Narration, Narcosis" widmet sich ebenfalls dem Verhältnis von Kunst zu politischen Protesten, historischen Traumata und gesellschaftlichen Erzählungen. Doch so wie der Untertitel „Collecting Entanglements and Embodied Histories" für den Besucher kryptisch bleibt, ist diese Ausstellung allenfalls ein assoziatives, bruchstückhaftes Kunstangebot. Sie vereint Arbeiten der Nationalgalerie mit Werken der Galeri Nasional Indonesia, dem MAIIAM Contemporary Art Museum (Thailand) und dem Singapore Art Museum. Insofern bietet sie eine nicht so häufige Gelegenheit, sich mit Kunst aus dem asiatischen Raum auseinanderzusetzen.
Es wird allerdings der Eindruck erweckt, dass der Schwerpunkt des dortigen Kunstschaffens bei Videoarbeiten läge, was mit Blick auf die ausgeprägte Handwerkskultur und natürlich auch Kunstmaler und Bildhauer nicht ganz zutreffend ist. Möglicherweise hat die Auswahl digitaler Objekte mit den Transportunsicherheiten während der Pandemie zu tun. Man erfährt aber nichts zu den Hintergründen des Konzepts, genauso wenig wie zu den Werken oder den über 50 Künstlerinnen und Künstlern. Es fehlen Wandtexte oder eine Führung zur sich auf zwei Ebenen abspielenden Ausstellung.
Nationen sind ein wandelbares Konstrukt
Im ersten Raum wird noch die Erwartung eines roten Fadens geweckt: An einem Konferenztisch mit Fantasie-Fahnen soll das Thema Nation Building verhandelt werden. Im zweiten Raum wird insbesondere mit einem Zeitzeugen-Video an das Grauen des Vietnamkriegs erinnert. Als Besonderheit wird bei den Geburtsdaten der Künstler jeweils der damalige Nationalstaat genannt, also das Königreich Preußen oder das Deutsche Reich. Es ist ein Fingerzeig, der daran erinnern soll, dass Nationen ein wandelbares Konstrukt sind.
Die Präsentation wird mit den vorhandenen stationären Werken, vor allem von Josef Beuys, verwebt. In der Gegenüberstellung deutscher und asiatischer Kunst entdeckt man gut die gegenseitige Beeinflussung. Im oberen Stockwerk kommt endlich etwas mehr Witz, Ironie und Sinnlichkeit in die zum Teil sehr vom Intellekt beherrschte Schau. Historische feministische Arbeiten von Valie Export und Marina Abramović treffen auf aktuelle Positionen von Kawita Vatanajyankur oder Melati Suryodarmo. In allen vier Filmen wird der weibliche Körper in Performances eingesetzt. Der Rest ist ein wilder Ritt durch „Konzepte der Kulturnation, der Leitkultur und agrarpolitischer Ideologien (…) Nationenstolz, Orientalismus, Othering", wie die Kuratoren selbst schreiben.
Das Fazit der beiden Jubiläumsausstellungen? Mit ihren vielen unbeantworteten Fragen stellen sie durchaus ein Abbild der Gegenwart dar, passend zum Konzept des Museums Hamburger Bahnhof. Man kann die ergebnisoffene Bilder- und Themenflut in „Nation, Narration, Narcosis" wahrnehmen und annehmen. Ob darin ein Mehrwert liegt, bleibt persönliches Ermessen.