Im Demokratie-Index liegt Hongkong inzwischen auf Platz 87. Die Wahlbeteiligung lag zuletzt bei gerade mal 30 Prozent. Der Druck aus China zeigt Wirkung und verändert die „Hybridregion" massiv.
Es war kurz vor dem Jahreswechsel, als Glacier Kwong zusammen mit Freunden auf der Couch saß. Man redete über das vergangene Jahr, und die junge Hongkong-Chinesin scherzte noch darüber, dass die Regierung ihrer Heimatstadt in letzter Zeit verdächtig ruhig gewesen sei. Bestimmt würde vor Jahresende noch etwas Schlimmes passieren. Dann vibrierte Kwongs Smartphone. Die im deutschen Exil lebende Dissidentin erfuhr, dass die nationale Sicherheitspolizei mit einem Hausdurchsuchungsbefehl vor der Wohnung von Ronson Chan stehe. Chan war leitender Redakteur des regierungskritischen Nachrichtenportals „Stand News", „eines der wenigen unabhängigen und nicht profitorientierten Medien in Hongkong", wie Glacier Kwong neulich in ihrer Kolumne für die „Welt" schrieb. Kurze Zeit später soll die Polizei auch die Redaktion durchsucht und mehrere Journalisten verhaftet haben. „Innerhalb von 24 Stunden wurde das Vermögen des Unternehmens eingefroren", schreibt Kwong weiter. Dann sei „Stand News" von den Behörden eingestellt worden.
Einst Abgeordneter, jetzt Exilant
Das Online-Portal ist nicht das erste und wird wohl auch nicht das letzte Nachrichten-Portal sein, das den Behörden der Sonderverwaltungszone Chinas ein Dorn im Auge ist und gegen das sie entsprechend vorgehen. Kurz nach der Einstellung von „Stand News" gab mit „Citizen News" ein weiteres regierungskritisches Nachrichtenportal auf. „Das Mediensterben in Hongkong, einst einer der wenigen Orte in Asien mit echter Pressefreiheit, geht weiter", schrieb Anfang Januar die „Süddeutsche Zeitung" dazu. Auch der Hongkonger Rechtsanwalt Dennis Kwok Wing-hang sieht die Demokratie in Hongkong auf wackeligen Beinen stehen. Zumindest konnte man diesen Eindruck gewinnen, wenn man an der – kürzlich von der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit veranstalteten – Online-Konferenz „What’s up Hongkong? Demokratie und Rechtsstaat nach den Parlamentswahlen" teilgenommen hat. Mit dem Nationalen Sicherheitsgesetz habe man in Hongkong eine entsprechende Behörde aufgebaut, einen Sicherheitsapparat, der dafür gesorgt habe, dass es praktisch „keine Opposition vor Ort" mehr gebe, so Kwok während der Konferenz, und „keine freie Presse, keine freie Rede". Denn das Gesetz, so Kwok, sei sehr breit angelegt. „Im Prinzip können Sie alles Mögliche unter dem Begriff der nationalen Sicherheit subsumieren." Einst Abgeordneter des prodemokratischen Lagers war der Jurist Ende 2020 mit weiteren Abgeordneten aus dem Parlament ausgeschlossen worden. Die verbleibenden Demokraten traten aus Protest gegen die Entscheidung zurück. Mittlerweile lebt Kwok im kanadischen Exil.
Auch der Konferenzveranstalter, die der FDP nahestehende Friedrich-Naumann-Stiftung musste ihre Büroräume in Hongkong im September 2020 schließen. Man könne die Sicherheit der Mitarbeiter vor Ort nicht mehr gewährleisten, hieß es damals in der Pressemitteilung der Stiftung. Zur Erinnerung: Im Juni 2019 gab es monatelange Proteste. Trotzdem trat am 1. Juli 2020 das Nationale Sicherheitsgesetz in Kraft. Der Ständige Ausschuss des Nationalen Volkskomitees (NPCSC) hat das Gesetz erlassen, um nach eigenen Angaben „Separatismus, Subversion, Terrorismus und ausländische Einmischung" in Hongkong zu verbieten. Mit im Visier sind auch die Verfechter der pro-demokratischen Bewegung. Seitdem erlebt Hongkong eine enorme Welle von Verhaftungen, Gewalt und Repression durch die chinesischen Behörden. „Im vergangenen Jahr haben wir Hongkonger mitansehen müssen, wie sich Pekings vertragliche Zusagen zum Erhalt der Demokratie in Hongkong in Luft aufgelöst haben", schreibt Glacier Kwong. Das Muster sei deprimierend: „Freunde werden verhaftet, die Erinnerung an demokratische Bewegungen wird ausgelöscht, unser Leben wird brutal und unwiderruflich verändert."
Bei der Einschätzung der politischen Situation Hongkongs ist es allerdings schwierig, sich ein differenziertes Bild zu machen. Das hat mehrere Gründe: So gibt es immer weniger westliche Korrespondenten vor Ort, sowohl in Hongkong selbst als auch in China. Die Exilanten, die über Hongkong berichten, haben als größte Widersacher der Regierung naturgemäß auch eine gefärbte Sichtweise. Laut Demokratieindex 2020 der britischen Zeitschrift „The Economist" belegt die Sonderverwaltungszone Platz 87 von 167 Ländern. Hongkong gilt als ein sogenanntes „Hybridregime". Das heißt: als ein politisches Zwitterwesen, das autokratische Merkmale mit demokratischen in sich vereint. In einem Hybridregime können gleichzeitig politische Repressionen stattfinden und regelmäßige, mehr oder weniger echte Wahlen abgehalten werden.
Mehr Hybridsystem als Demokratie
Die Wahlen zum Hongkonger Parlament sollten ursprünglich schon am 6. September 2020 stattfinden. Doch Regierungschefin Carrie Lam verschob die Wahlen mit dem Hinweis auf die Covid19-Pandemie. So wurden die Wahlen um etwas mehr als ein Jahr auf den 19. Dezember 2021 verschoben. Die Wahlbeteiligung lag bei 30,2 Prozent. Mehr als zwei Prozent der abgegebenen Stimmzettel waren leer oder ungültig. Die meisten Sitze hat das patriotische, Peking-freundliche Lager gewonnen. Mit Tik Chi-yuen wurde lediglich ein einziger Kandidat, der nicht dem Establishment angehört, gewählt.
Wenige Wochen nach den Parlamentswahlen herrscht in der Online-Konferenz zumindest Ernüchterung. „Hongkong ist nicht mehr das Hongkong, das es noch vor dem Sicherheitsgesetz war", resümiert Maximilian Kalkhof, einer der Redner und China-Korrespondent der „Welt". „Wir haben es hier mit einem China zu tun, das die Rolle Hongkongs drastisch verändern möchte. Und das hat kein Interesse daran, dass ein Hongkong von heute und morgen das Hongkong von gestern ist." Aus Sicht der Volksrepublik dürfe Hongkong nicht mehr dieser „Unruheherd" wie 2014 und 2019 sein. Der Journalist spricht von einem „Wahrnehmungsproblem" in Deutschland, wo man den Willen Chinas, in Hongkong alle Freiheitsrechte abzubauen „in seiner Drastik" gar nicht anerkenne. Man schaue immer noch nach hinten und frage sich, was man tun könne, um „ein Land, zwei Systeme" wieder instand zu setzen. Doch, so sagt Kalkhof: „Der Zug ist abgefahren. It’s not gonna happen!" Was man tatsächlich bräuchte, sei der Blick nach vorne und zu akzeptieren, dass Hongkong kein eigenständiges Regime mehr sei, sondern dass es vielmehr „ein Land, ein System" sei. Auch Dennis Kwok Wing-hang kommt zu einem ähnlichen Resümee. Er glaubt, dass das, was gerade in Hongkong passiert, erst der Anfang des politischen Umbaus sei.