Seit Wochen steht ganz Osteuropa unter Spannung: Truppen und Panzer rund um die Ukraine, Nato-Manöver in den baltischen Staaten, Kriegsschiffe. Droht ein Krieg? Pia Fuhrhop, Sicherheitsexpertin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, im Gespräch mit FORUM.
In Europa wächst die Sorge vor einer militärischen Intervention Russlands in der Ukraine. Neben dem Aufmarsch von rund 100.000 Soldaten in der Nähe der ukrainischen Grenze ist für Februar ein Manöver in Belarus geplant. Was hat Moskau vor?
Wir können da nur Vermutungen anstellen, Putin hat ein derart geschlossenes System errichtet, dass nur schwer zu durchschauen ist, was er will. Es gibt da einerseits Forderungen gegenüber der Ukraine nach einem Ende der Aussicht auf eine Nato-Osterweiterung und der politischen und militärischen Zusammenarbeit zwischen der Ukraine und der EU und der Nato. Eine immer stärker westlich integrierte, prosperierende Ukraine würde Moskau stark beunruhigen. Andererseits möchte Moskau gerne erreichen, dass es bei der Gestaltung der europäischen Sicherheitsarchitektur eine Art Veto-Position hat. Natürlich muss Russland da eine Rolle spielen. Aber die Forderung nach einer russischen Einflusszone, die Staaten wie der Ukraine die Selbstbestimmung abspricht, ist natürlich völlig inakzeptabel.
Will Putin die Zeit zurückdrehen?
Neben der Garantie, dass die Nato sich nicht erweitert, will Putin auch den Rückzug der Nato-Truppen vor die Zeit der Osterweiterung, also vor 1997. Ich finde interessant nicht nur was er, sondern auch wie er es fordert: quasi will er unter vorgehaltener Pistole – der Truppenaufmarsch – eine prompte und schriftliche Antwort. Dafür verlegt er über 100.000 Soldaten an die ukrainische Grenze. Mit dieser Drohgebärde will er auch versuchen, den Westen zu spalten.
Ist eine russische Besetzung der Ukraine denkbar?
Ich würde sagen, denkbar ist im Moment alles. Wenn ein Krieg mal angefangen hat, dann kann es immer eine Reihe von nicht vorhersehbaren Folgen geben. Aber ich denke, dass eine vollständige Besatzung nicht droht, dazu ist das Land zu groß, mit einer Armee von 200.000 Mann, vielen Reservisten und 40 Millionen Einwohnern. Eine Besatzung wäre mit ganz hohen Kosten für Russland verbunden. Die ganze Truppenkonzentration um die Ukraine herum ist ein Mittel der Zwangsdiplomatie. Das reicht nicht, um einzumarschieren und zu bleiben.
Und das sogenannte Separatistengebiet?
Für den Donbass im Südosten der Ukraine wäre eine militärische Eskalation vielleicht denkbar, ähnlich wie es sich bei der Besetzung der Krim abspielte. Russland hat bereits einem Großteil der dort lebenden Bevölkerung russische Pässe gegeben. Moskau würde das Gebiet abschneiden und zu einer eigenen Provinz machen, vielleicht so etwas wie eine autonome Republik ähnlich Moldawien – und damit einen weiteren „eingefrorenen Konflikt" schaffen.
Könnte Putin es schaffen, unter dem um die Ukraine herum aufgebauten Druck die baltischen Staaten in den russischen Machtbereich zurückzuholen und von der Nato abzukoppeln?
Zumindest machen sich die baltischen Staaten große Sorgen darum, bis hin zu einer militärischen Intervention. Das muss gerade Deutschland ernst nehmen. Die Situation kann brenzlig werden: Kaliningrad und die Grenze zwischen Litauen und Polen sind die Achillesferse der Nato. In Kaliningrad hat Russland Zehntausende von Soldaten, ballistische Raketen, Kriegsschiffe und noch mehr zusammengezogen. Damit wäre die Grenzregion zu besetzen und die baltischen Staaten wären zu Lande abgeschnitten. Die Nato hat seit 2016 deshalb rotierende multinationale Einheiten in Estland, Lettland und Litauen stationiert.
Wie kann die EU reagieren: Waffen liefern, beschwichtigen, Gespräche führen?
Alles zusammen, außer beschwichtigen. Man kann Forderungen nicht nachgeben unter vorgehaltener Pistole. Aber das Wichtigste ist, dass sie mit einer Stimme spricht. Dass EU, USA und Nato zusammenrücken und sich nicht spalten lassen. Wenn sich die EU-Staaten einig sind, halte ich die ökonomischen Druckmittel im Moment für ein schärferes Schwert als Waffenlieferungen. In den vergangenen Jahren haben einzelne europäische Länder die Soldaten in der Ukraine ausgebildet, und allein die USA haben seit 2014 für rund 2,5 Milliarden Dollar an Rüstungsgütern geliefert. Im Moment können aus meiner Sicht europäische Staaten kurzfristig nicht das militärische Gerät liefern, das eine überzeugte russische Führung von einer Invasion abschreckt. Dafür ist Russland zu klar militärisch überlegen.
Und die Bundesregierung?
Vor diesem Hintergrund kann ich die Zurückhaltung der Ampelkoalition, was Waffenlieferungen betrifft, durchaus verstehen.
Wenn es hart auf hart kommt: Würden die Europäer tatsächlich kämpfen? Vielleicht sogar in der Ukraine?
Das würde ich eher bezweifeln. Die Frage stellt sich auch im Moment nicht. Was man sehen kann, ist, dass die Nato in Reaktion auf die Krise militärische Kräfte in Einsatzbereitschaft versetzt und zusätzliche Kräfte in die östlichen Mitgliedsstaaten schickt. Das soll richtigerweise diese Partner absichern und Russland signalisieren, dass eine militärische Auseinandersetzung mit ganz hohen Kosten verbunden wäre.
Die EU will sich auf Betreiben Deutschlands einen „strategischen Kompass" geben – was halten sie davon?
Papier ist ja geduldig und am Ende kommt es darauf an, ob die Mitgliedstaaten das umsetzen wollen. Dass die EU sich darauf einigt, das es eine veränderte Bedrohungslage gibt und das auch festhält, ist schon mal gut. Auch dass sie versucht, sich eine gemeinsame Blickrichtung zu geben, denn derzeit gucken nördliche und östlichen Staaten eher nach Russland, die westlichen und südlichen nach Nordafrika. Aber der Entwurf ist noch unausgegoren und typisch EU: vier Körbe mit 40 Zielen bis 2030, das zerfasert bereits im Ansatz.
Offenbar halten Russland wie China den Westen für schwach, sodass sie sich jeden Vorstoß und Spaltungsversuch leisten können. Wie lässt sich das ändern?
So schwach ist der Westen sicherlich nicht. Aber diese Staaten beobachten unsere Fehltritte genau. Der Abzug aus Afghanistan ist sicher das beste Beispiel, da klaffen Selbst- und Fremdwahrnehmung stark auseinander. Vielleicht haben wir doch unterschätzt, was dieser unvermittelte Abzug aus so einem großen Projekt für Folgen haben wird. Ein erster wichtiger Schritt wäre diese Schwachstellen zu identifizieren und sie anzugehen. Aber nicht jeder Spaltungsversuch gelingt. Im Fall der Ukraine ist es Russland bislang nicht gelungen, den Westen grundlegend zu spalten – es hat sich niemand gemeldet, der gesagt hat, wir sollten Russland das verlangte Veto in der Sicherheitspolitik einräumen. Selbst Präsident Macron, der ja immer für eine eigenständigere Rolle der EU geworben hat, hat sich am Ende zur engen Abstimmung zwischen den USA, der Nato und der EU bekannt. Diese Einigkeit zu bewahren wird sicher ein Schlüssel sein, um der Krise um die Ukraine zu begegnen und Europas Sicherheit zu bewahren.