Ja, wo sind sie denn, die deutschen Talente im Tennis, von denen wir manchmal erfahren, aber bei den Grand Slams gefühlt zu wenig sehen? Die gute Nachricht zuerst: Es gibt sie, auch wenn nicht jede Juniorin schon in Teenie-Jahren bei den vier größten Turnieren für Furore sorgt.
Sie lag zwei Breaks im ersten Satz zurück, behielt ihre Nerven, hielt sich an ihren Spielplan. Machte Druck. Gewann, mit großer Selbstverständlichkeit in ihrer Körpersprache, obwohl gerade mal 16 Jahre alt. Carolina Kuhl, deren Name erfreulicherweise genau nach dem klingt, was das deutsche Tennis derzeit dringend braucht: Coolness. Und was den etablierten Spielerinnen und Spielern des Deutschen Tennisbundes (DTB) zum Grand-Slam-Titel als konsequente Strategie bei den großen Matches fehlt: Druck aushalten und dem Gegner Druck machen. Match gewinnen, abhaken, erholen und die nächste Etappe angehen.
Nachts, wenn in Deutschland alles schläft, wird in Australien zum Jahresanfang Tennis gespielt. So auch morgens um Eins nach süddeutscher Zeit, als die 16-Jährige aus Fürth beim Junioren-Grand-Slam in Melbourne auf den Court ging. Präpariert durch Laufen in den Allgäuer Bergen, wo Kuhl ihren Trainingsgenossinnen stets eine Nasenlänge voraus war.
So erzählt Barbara Rittner. Als Eurosport-Kommentatorin und DTB-Cheftrainerin hat die ehemalige Profi-Spielerin junge Talente sehr genau im Blick. Motivieren, einschätzen, auswählen und auch loben, das kann die 48-Jährige. Die „Golden Girls", einst auf Hochglanz poliert im Porsche Talent Team, sind mit Rittner eng verknotet: Angelique Kerber, die drei Grand-Slam-Titel holte und Nummer eins der Welt war. Andrea Petković und Julia Görges, mit Platzierungen in den Top Ten. Ihren direkten Nachfolgerinnen fiel die harte Tour schwer. Im aktuellen Junior Team stellen sich Schülerinnen auf die toughe Konkurrenz ein.
Siehe Kuhl, perfekt temperiert für die Hitze Australiens. Als ob der Sieg auf ihrer To-do-Liste für diese Nacht, diesen Tag in Australien gestanden hätte, zog sie ins Viertelfinale ein. Eine junge Erwachsene, die ausstrahlt, wozu sie fähig ist. Die jenes Alter genießt, in dem Ältere 16-Jährige beispielsweise zu Jugendturnieren von Grand Slams ziehen lassen sollten. Unterstützt durch eigene Trainer, mental und physisch. Mit Neugier auf Training neben oder gar mit den großen Stars.
Gewöhnen ans Gewinnen trotz mächtiger Gegenwehr, darum geht es. An all den Wirbel, der die großen Turniere mit abertausenden Zuschauern umtost. An das Getöse um die Großen. „So ein Grand Slam ist schon erschlagend, mit allem Drum und Dran", sagt Rittner auf Eurosport. Wo sind sie nun, die Talente? – Junge Nachwuchsspielerinnen trainieren derzeit beispielsweise in Regensburg, in der Akademie von Michael Geserer. So wie vor ihnen Julia Görges, Jennifer Brady und Philipp Kohlschreiber. Zu den Coaches der BeTennisBase gehört Daniel Pohl, eine seiner Klientinnen ist die superstarke, griechische Top-Spielerin Maria Sakkari. Auch Kuhl feilt dort an ihrer Karriere. Die 16-Jährige arbeitet – neben der Schule – „tagein, tagaus hart weiter. Sie liebt Tennis mit Leidenschaft und hat sich da committed", sagt Rittner.
Der Weg nach oben ist steinig und lang
Die neue Unerbittlichkeit im Damentennis erwartet beim Übergang ins Profitennis Talente wie Kuhl. Alizé Cornet ist schon lange unterwegs auf der Tour, spielte als 15-Jährige erstmals bei einem Grand Slam. Doch die 28-jährige Danielle Collins hatte der 32-Jährigen Französin heuer im Viertelfinale die Erfahrung eines Halbfinal-Einzugs bei den Australian Open voraus. Und den Willen, ohne Ende Druck auf ihre Gegnerin auszuüben. „Ich habe ewigen Respekt für die Grand-Slam-Gewinner", sagte Cornet, „weil es so ein langer Weg ist. Mein Gott, ich habe das Gefühl, ich spiele schon seit einem Jahr dieses Turnier. Ich bin mental und physisch so erschöpft." Doch auch Collins, die über ihre Müdigkeit selbst gegen die French-Open-Siegerin Iga Sviatek hinauswuchs, ist ein Mensch und erzählte von Einsamkeit, die zum Problem auf der Tour werden kann: „Ich weiß, wie es ist, wenn man allein umherreist. Deshalb ist es gut, diese Menschen um mich herum zu haben, abseits des Platzes", sagte die 28-jährige US-Amerikanerin. „Mein Freund hat sogar Urlaub genommen, um bei diesem Turnier dabei zu sein. Irgendwann wird er wieder arbeiten müssen."
Liebe und Leiden. Mit einem Geburtstagsblumenstrauß in der Hand nahm die deutsche Nummer eins, Angelique Kerber, ihr Erstrunden-Aus relativ gelassen hin. Wohl auch eingedenk der Aussicht, in den folgenden Tagen mehr Zeit für ihren Freund zu haben. Bei den Australian Open, bei denen Angie nach ihrem ersten Grand-Slam-Sieg 2016 ins kalte Wasser sprang, erwischte die deutschen Tennisdamen heuer eine kalte Dusche: Fast symbolisch drängte Kaia Kanepi die einstige Turnier-Siegerin Kerber beim Erstrunden-Match immer weiter nach hinten. Angie habe durch ihre Corona-Erkrankung im Dezember nicht die optimale Vorbereitung gehabt, resümierte Rittner. Dadurch habe der 34-Jährigen die nötige Sicherheit für ihr aggressives Spiel gefehlt. „Ich werde trotzdem heute Abend ein bisschen feiern", tröstete Kerber ihre Gratulanten und Fans später auf Instagram.
Gegen das Debakel Grande der deutschen Damen half Angies reduzierte Siegeslust kaum: Zum ersten Mal seit 45 Jahren stand bei den Australian Open keine Deutsche in der zweiten Runde. Denn Andrea Petković und Tatjana Maria schieden ebenfalls sofort aus. Nur drei Spielerinnen, so wenige wie zuletzt 2004, waren zum Hauptevent zugelassen. Ähnliches könnte bei den nächsten Grand Slams passieren. Was den beiden 34-Jährigen nicht anzulasten ist: Petković hatte ihre Karriere verlängert, Maria ist frühzeitig aus der Baby-Pause zurück. Eine Lücke klafft, bis die „Teenies" kommen. Immerhin ist da noch Jule Niemeier vom Porsche Talent Team des DTB. Gelingt der 23-Jährigen eine weitere Annäherung an die Top 100, steigen ihre Aussichten, bei Grand Slams die Kür der Tenniskarrieren zu zelebrieren. Bei den Juniorinnen hätten in Melbourne übrigens sogar zwei weitere Deutsche antreten dürfen. Wären sie unverletzt beziehungsweise geimpft gewesen.
Eine theoretische Chance auf einen Grand-Slam-Titel hatten heuer neun deutsche Männer, die es ins Land und auch noch ins Hauptfeld der Australian Open geschafft hatten. Nach Novak Djokovics Ausweisung rückte Alexander Zverev sogar auf den zweiten Platz der Setzliste vor.
In den Sozialen Medien stand in Posts des Hamburgers zu sehen und zu lesen, dass er sich außerhalb der Courts mit Büchern von Stephen Hawking beschäftige. Astrophysik, Allgemeine Relativitätstheorie und Schwarze Löcher: Irgendwie gab es bei diesen Australian Open von allem ein wenig zu erleben. Saschas Kollegen aus Boris-Becker-Land griffen nicht nach den Sternen, sondern schieden spätestens nach der zweiten Runde aus.
Zverev spielte zunächst gegen leichte Gegner im Allgemeinen relativ mäßig und kommentierte nach seinem Sieg in der dritten Runde selbstkritisch: „Schlechter werde ich in diesem Turnier wahrscheinlich nicht mehr spielen." Doch. Gegen Denis Shapovalov, seinen ersten ernsthaften Gegner, der bei weitem nicht alles gab, fiel der 24-Jährige in ein dunkles Loch. Der Weltranglisten-Dritte vergaß jegliche Strategie, verkörperte nur noch Ratlosigkeit, übte so gut wie keinen Druck aus. Gleißende Sonne, australische Sommerhitze, schnell und hochspringende Bälle. Black Out.
Sascha suchte nach seiner klaren Dreisatz-Niederlage nicht nach Entschuldigungen, urteilte stattdessen knapp: „Eines der schlechtesten Spiele, die ich je gespielt habe. Ich muss auf mich schauen, es war einfach nur schrecklich von mir." Druck hatte sich die Nummer drei der Welt wohl selbst gemacht: „Ich weiß, dass ich die Chance habe, Nummer eins zu werden, weil Novak nicht spielt. Ich muss mein Tennis spielen", sagte er vor seinem Ausscheiden auf Eurosport.
„Er ist nur ein Mensch", erklärte sich Rittner seinen „schlechten Tag". Doch man müsse sich fragen, warum Zverev nicht die positiven Dinge gesehen und sich nicht dagegengestemmt hat. „Er hat sich in der Enttäuschung bestätigt, von Runde zu Runde immer weniger Winner gemacht." Ihr fehle, dass Zverev mit seiner Körpersprache zeigt, dass er gewinnen wolle, dass er sich herausarbeite. So wie der Kanadier Denis Shapovalov, der die Faust gezeigt hat, die ganze Zeit. „Sascha muss auch schlechte Tage akzeptieren. Nadal gewinnt auch an einem schlechten Tag", kommentierte die Spitzenfrau des DTB.
Fehlt Zverev die Körpersprache?
Und zum Thema Anspruch auf den Spitzenplatz der Weltrangliste: „Das sehen auch junge Spieler, die Schlange stehen: „An einem schlechten Tag kannst Du auch Sascha Zverev schlagen." Das ist den großen Dreien sehr selten passiert."
Der Druck des Erfolges und das Schwarze Loch: Zum Beginn des Grand-Slam-Jahres 2022 sind gleich ein Dutzend deutsche Spielerinnen und Spieler hineingestürzt. Dieser miserable Auftakt ist relativ: Desaster können motivieren und Corona bringt manche aus dem Tritt. Es ist erst ein paar Jahre her, da glänzten die Golden Girls und die deutschen Herren wurden kritisiert, obwohl sie gar nicht so schlecht waren. Bei ihnen weisen aktuell die Vorzeichen nach oben, auch über Zverev hinaus. Wann Deutschland neue Top-Ten-Spielerinnen haben wird? Das steht aktuell noch in den Sternen. Zeit ist relativ.
Und nach dem Dunkel der australischen Nächte dämmert ein neuer Morgen. Auch wenn man trotz aller Entschlossenheit mal ein Viertelfinale verliert. Etwa gegen eine Australierin, vor einem australischen Publikum, das wie Cristiano Ronaldo gerne „SIUUU" ruft, was lautstark nach „Buh" klingt. Eine Niederlage, wie sie Carolina Kuhl während einer weiteren deutschen Morgendämmerung in Melbourne passierte, die damit aber so weit gekommen war, wie heuer kein anderer Deutscher Down Under.