Trotz der Drohkulisse, die Russland an der Grenze zur Ukraine aufbaut, wäre der Preis eines Einmarsches für Putin zu hoch. Dieser Meinung ist der Friedensforscher Otmar Steinbicker. Denn Kriege seien heute nicht mehr zu gewinnen.
Herr Steinbicker, befinden wir uns in Europa an der Schwelle eines heißen Krieges?
Realistisch betrachtet: nein. Russland hätte bei einem Einmarsch in die Ukraine nichts zu gewinnen, aber sehr viel zu verlieren. Es würde auf beiden Seiten viele Tote geben. Die Erkenntnis, dass es in einem mit konventionellen Waffen geführten großen Krieg keinen Sieger gibt, ist bei den Militärs in Ost und West längst gereift. Das zeigt auch das Beispiel Afghanistan, wo sowohl Russland als auch der Westen nicht gewinnen konnten. Ein Atomkrieg wäre sogar völlig absurd, da das das existenzielle Ende der Welt bedeuten würde. Hinzu kommt, dass sich Russland mit einer Wirtschaftskraft wie etwa Italien aus rein ökonomischen Gründen gar keinen größeren Krieg leisten könnte. Vladimir Putin ist vielleicht ein Pokerspieler, aber kein Hasardeur.
Trotzdem gibt es diese Drohkulisse an der Grenze zur Ostukraine. Was sind die Gründe dafür?
Der aktuelle Konflikt ist sehr komplex und vielschichtig. Es geht um die Vorherrschaft in der Welt zwischen China und den USA. Russland als militärische Weltmacht, aber als ökonomischer „Zwerg" spielt in dieser Frage nur noch eine untergeordnete Rolle. Der ehemalige US-Präsident Obama hat Russland sogar mal als Regionalmacht bezeichnet, was am Selbstverständnis Russlands nagt. Putin versucht mit dem Säbelrasseln, die USA zu zwingen, auf Augenhöhe zu verhandeln. Die Vereinigten Staaten werden natürlich schon schauen, Russland nicht an die Seite von ihrem eigentlichen Rivalen China zu drängen. Verglichen mit der Situation 2014 und der Besetzung der Krim hätte der Verlust von Sewastopol als strategischer Hafen den Verlust als militärische Weltmacht bedeutet, also heute eine ganz andere Situation. Zu nennen sind natürlich auch die innenpolitischen Probleme Putins. Er versucht von seinem autoritären Führungsstil mit außenpolitischen Aktionen abzulenken. Putin sagt, dass der Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetunion das schlimmste Ereignis in der Geschichte Russlands gewesen sei. Dann die Ukraine selbst, die sehr viele eigene ungelöste Probleme hat. Den Staat Ukraine gab es mal in den 1920er-Jahren und dann erst wieder ab 1990. Des Weiteren schwappen Nachwirkungen anderer Konflikte in die aktuelle Situation mit hinein, wie etwa der Umgang mit russischen Minderheiten in den baltischen Staaten. In Polen, im Baltikum, in der Ukraine schwingen historisch große Annexionsängste durch Russland mit. Und dann bleibt noch als großes Thema der Menschheit der Klimawandel, der nur mit allen Staaten der Welt und sehr viel Geld gemeinsam gelöst werden kann. Ein Krieg wäre für Russland in jeder Hinsicht ein Super-GAU.
Russland fühlt sich in Sicherheitsfragen von der Nato umzingelt. Was glauben Sie, würden die USA tun, wenn gleiches vor ihrer Haustür passieren würde, sprich Raketen auf Kuba oder in Venezuela?
Das ist ein Szenario, das Russland selbst verworfen hat. Ein Land wie Kuba sucht schon aus ökonomischen Gründen eher eine Annäherung an die USA, als dass es einen neuen Konflikt eingeht. Aber die Ängste Russlands vor einer Einkreisung durch die Nato sind durchaus nachvollziehbar, denn Nato-Truppen sind in Polen und im Baltikum stationiert und wären bei einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine nur noch rund 800 Kilometer von Moskau entfernt. In der Öffentlichkeit sagt die Nato, dass jedes Land selbst entscheiden darf, welchem Bündnis es beitritt oder auch nicht. In der Realität sieht es so aus, dass selbst die USA Bedenken haben, die Ukraine aufzunehmen und dort Truppen zu stationieren, geschweige denn Atomwaffen. Laut Aussagen führender außenpolitischer Fachleute in der Fachzeitschrift „Foreign Affairs" wäre das ein strategischer Wahnsinn, zumal die Region um die Ukraine als sehr unsicher gelte. Ein Waffengang hat die Nato bei einem Einmarsch der Russen derzeit sowieso ausgeschlossen.
Nach der Besetzung der Krim, dem Konflikt in der Ostukraine und dem neuen Bedrohungsszenario wirft der Westen Russland Krieg als Mittel der Wahl vor. Was ist dran an diesem Vorwurf?
Diese Behauptung kommt der Nato sehr gelegen. In Zeiten des Kalten Krieges gab es die beiden kollektiven Verteidigungsbündnisse Warschauer Pakt und die Nato mit klar definierten Feindbildern, die letztendlich, so die Auffassung beider Systeme, vor einem Waffengang nicht zurückscheuen. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Auflösung des Warschauer Pakts ist das Feindbild verlorengegangen. Übrigens wurden von 2001 bis 2013 die Taliban das neue Feindbild des Westens. Seit der Annexion der Krim 2014 wurde Russland wieder ein willkommenes Feindbild der Nato, was ja die Berechtigung eines Verteidigungsbündnisses untermauert. Dadurch wurde der Zusammenhalt der Nato nach außen hin eher gestärkt, was ja eigentlich nicht im Sinne Putins ist.
Wie lautet die Rolle der EU, insbesondere Deutschlands, in diesem Konflikt?
Das Bedrohungsszenario findet zwar in Europa statt, aber der Schlüssel zu Verhandlungen liegt in den USA, auch wenn es Bemühungen gibt wie mit dem Normandie-Format, sprich Verhandlungen zwischen Frankreich, Deutschland, Russland und der Ukraine. Die EU ist sich bewusst, allen voran Frankreich, dass Europa mehr für die eigene Verteidigung tun muss und sich nicht auf seinen atlantischen Partner USA allein verlassen kann. Deutschland ist in der Ukraine-Frage wie Wirtschaftssanktionen, Nord Stream 2 oder Waffenlieferungen hin- und hergerissen. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Aussage von Außenministerin Annalena Baerbock auf der Pressekonferenz bei ihrem Antrittsbesuch in Moskau, dass Deutschland keine Sonderrolle in dem Konflikt übernehmen werde, sondern sich an Nato und EU orientiere. Zumindest hat sie die Vermittlerrolle Deutschlands wie einst Angela Merkel nicht explizit betont.
Welche Rolle könnten mögliche Wirtschaftssanktionen spielen?
Bei Wirtschaftssanktionen verlieren beide Seiten, da die wirtschaftlichen Abhängigkeiten hoch sind. In dieser Frage ist Deutschland ja sehr gespalten zum Beispiel beim Thema Nord Stream 2 oder den Ausschluss Russlands aus dem internationalen Zahlungsverkehr Swift. Interessant ist, dass weder Wirtschaft noch Militär bei diesem Konflikt in der öffentlichen Wahrnehmung sich zu Wort melden.
Welche Lösungsmöglichkeiten gibt es aus Ihrer Sicht, diesen Konflikt zu deeskalieren?
Es gibt zum Dialog mit allen wichtigen Akteuren, bei dem alles auf den Tisch kommt, keine Alternative. Es muss über die russischen Ängste wie Osterweiterung der Nato genauso geredet werden wie über die Annexionsängste der Ukraine. Kriege sind heute nicht mehr zu gewinnen, also führt folglich an der Abrüstung kein Weg vorbei. Es gab bereits vor vielen Jahren unter führenden Militärs aus Ost und West den Begriff der sogenannten strukturellen Nichtangriffsfähigkeit, sprich niemand kann offensiv einen Krieg führen. Daran kann bei einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur angeknüpft werden. Im Übrigen gab es seit 1945 im Ost-West-Verhältnis immer wieder Spannung und Entspannung, sei es die Kuba-Krise 1962, die Schlussakte der KSZE-Konferenz von Helsinki 1975, der Nato-Doppelbeschluss mit Stationierung von Pershing-2-Raketen und Cruise Missiles, das Abkommen über die Verschrottung landgestützter atomarer Mittelstreckenraketen 1987 oder die neue Eiszeit seit der Krim-Annexion und wieder begonnener atomarer Aufrüstung. Man könnte sich fragen, ob die verantwortlichen Regierungen erst eine neue Kuba-Krise brauchen, um auf beiden Seiten wieder zur Vernunft zu kommen. Der Überlebenswille der Menschen sowie die Abkehr von einer nicht mehr sinnvoll erscheinenden und kostspieligen Hochrüstung sollten letztendlich für Entspannung sorgen.