Es gibt nicht viele Momente, die das Adjektiv „historisch“ verdienen. Für die Sondersitzung des Bundestags am 27. Februar ist es zutreffend – wie auch für die Reaktionen auf den Krieg in der Ukraine.
Der 24. Februar, der Beginn des Angriffs russischer Truppen auf die Ukraine, hat alles in einem atemberaubenden Tempo verändert, dass es kaum gelingt, den Überblick zu behalten.
„Die Dynamik ist ungeheuerlich“, sagt Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die Sicherheitspolitikerin der FDP.
Hatte es in den ersten Tagen noch für viele den Anschein erweckt, als stünden den wortgewaltigen Reaktionen westlicher Länder nur zögerliche konkrete Maßnahmen gegenüber, ließ sich das drei Tage nach dem Angriff kaum noch behaupten.
Allem gewohnten langwierigen Diskussions- und Abstimmungsbedarf zum Trotz hat der „Westen“ in seinen unterschiedlichen Konstellationen (Nato, EU und Einzelmitglieder) ein massives und vor allem umfassendes Maßnahmenpaket in Gang gesetzt.
„in einer anderen Welt aufgewacht“
Deutschland hat dabei den wohl längsten Weg zurücklegen müssen, um eine „180-Grad-Wende“, wie es SPD-Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) ausdrückte, zu schaffen. Und die stand denn auch drei Tage nach dem Angriff. Dass Putin, wie immer wieder kommentiert wird, tatsächlich die Reaktionsfähigkeit des Westens unterschätzt hat, dafür gibt es eine Reihe von Indizien. Die Ankündigung, „Abschreckungskräfte“ mit einem Nuklearwaffenarsenal in Alarmbereitschaft versetzt zu haben, erfolgte fast zeitgleich mit der Sondersitzung des Bundestags, die alleine aber den Kriegsherrn in Moskau kaum beeindruckt haben dürfte. Klarer wird es, wenn als Grund das „aggressive Verhalten“ der Nato genannt wird. Ein Indiz, dass die Maßnahmen nicht ohne Eindruck geblieben sind und es sich um den „hohen Preis“ handelt, der von vielen führenden Köpfen angedroht worden war.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) spricht von einer „Zeitenwende“. Baerbock hatte am Tag des Kriegsbeginns festgestellt: „Wir sind in einer anderen Welt aufgewacht.“
Die Antwort auf diese andere Welt ist nicht nur die Wende in der Außen- und Sicherheitspolitik. Den zuvor oft ironisch belächelten 5.000 Helmen folgen Panzerabwehr- und Luft-Boden-Raketen. Deutschland hat sich von der Maxime, keine Waffen in Krisen- und schon gar nicht in Kriegsgebiete zu liefern, verabschiedet. Was in diesem Fall wohl durch eine große Mehrheit in der Bevölkerung gedeckt sein dürfte. Die Frage, wie sich das auf mittlere Sicht in den strategischen Ausrichtungen auswirken wird, ist jetzt sicher noch nicht zu beantworten. Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) bezeichnete die Entscheidung als „richtig“, fügte aber hinzu: „ob sie gut ist, das weiß heute keiner“. Das gilt wohl auch für die Zusage, künftig sogar über das Zwei-Prozent-Ziel bei den Rüstungsausgaben hinauszugehen. Übernimmt damit Deutschland auch in diesen Fragen das, was so oft gefordert wurde, nämlich führende Verantwortung nicht nur in dieser Krise, sondern auch auf Dauer? Inwiefern Putin auch mit Sanktionen in ganz anderen Bereichen, insbesondere im internationalen Sport, gerechnet und ob sie ihm überhaupt sonderliches Kopfzerbrechen bereiten, kann allenfalls spekuliert werden. Dass sich Fußball-Zweitligist Schalke 04 von Hauptsponsor Gazprom trennt, mag wie eine Randnotiz im Geschehen aussehen. Dass von der DFB-Spitze die Solidarität anderer Clubs in Aussicht gestellt wurde, wenn Schalke damit in Notlage gerät, hat allerdings Symbolkraft.
Solidarität wird in vielen Bereichen gebraucht, denn dass die Sanktionen und Maßnahmen nicht ohne Rückwirkungen bleiben, hat im Grunde jeder Spitzenpolitiker als Standard-Nachsatz zu Erklärungen und Statements hinzugefügt. Kurzfristig hat Wirtschaftsminister Habeck Hilfe für Unternehmen vergleichbar den Corona-Hilfen angedeutet.
Auf Sicht geht es – neben der größeren Unabhängigkeit der Energieversorgung – aber auch um eine Neuorientierung in den globalen Handelsbeziehungen. Dem von vielen erhofften Weiter-So nach der Pandemie dürfte der Krieg in der Ukraine einen Riegel vorschieben.
Maßnahmen auf vielen Ebenen
Insgesamt hat Europa seit Ausbruch des Krieges ein Bild ungewohnter Einigkeit und Entschlossenheit abgegeben, entschlossen, die Entwicklungen auf dem eigenen Kontinent selbst in die Hand zu nehmen. Natürlich in enger Abstimmung mit den USA und Nicht-mehr-EU-Mitglied Großbritannien, was wiederum auch die Nato aus dem so oft zitierten hirntotähnlichen Zustand erweckt hat. Was beide Bündnisse (EU und Nato) nicht von heute auf morgen, aber auf Sicht verändern wird.
Sollte Putin auf die Schwäche einer traditionell diskussionsfreudigen und nur mühsam einigungsfähigen EU, geschwächt durch den Brexit, gesetzt haben, oder ein nach dem desaströsen Afghanistan-Rückzug orientierungslosen Verteidigungsbündnis, hat er sich fürs erste verschätzt. Ebenso was die Entschlossenheit angeht, für harte Sanktionen auch eigene Folgen in Kauf zu nehmen. Aber womit Putin gerechnet und auf was er wirklich abgezielt hat, blieb bislang weitgehend Spekulationsgegenstand. Ob der „hohe Preis“ (mit bislang immerhin vier Sanktionspaketen der EU und zuletzt der russischen Zentralbank im Visier) Putin beeindruckt, womöglich sein Umfeld ins Wanken und die Militärspitze ins Nachdenken bringt, bleibt ebenfalls im spekulativen Bereich.
Ralph Sina, langjähriger USA- und Brüssel-Korrespondent, der durchaus hart mit den Versäumnissen und Zögerlichkeiten der Bundesregierung unter Kanzlerin Merkel ins Gericht geht, äußert sich eher zurückhaltend, was die Wirkungen der Sanktionen betrifft, und sieht als „den mächtigsten Verbündeten und Putins größten Gegner Russlands junge Generation und Opposition, die von Putin um ihre Perspektiven betrogen werden“.
Der Beitrag gibt den Stand vom 1. März 2022 wieder.