Es ist die größte militärische Aggression in Mitteleuropa seit dem Zweiten Weltkrieg. Der Westen schien nach dem russischen Überfall auf die Ukraine erst wie paralysiert. In die Demonstrationen gegen den Krieg mischt sich Kritik an der deutschen Politik.
Seit Beginn der Pandemie vor zwei Jahren gab es in den Tagen nach dem russischen Überfall auf die Ukraine erstmalig wieder einen schon fast vergessenen übergreifenden gesellschaftlichen Zusammenhalt. Bundesweit kam es spontan zu Hunderten von Demonstrationen gegen die versuchte militärische Okkupation.
Plötzlich standen wieder politisch Konservative, Linke, Gewerkschaftler, Kirchenvertreter, Menschen aus der Ukraine mit Russen Schulter an Schulter. Sie vereint die Fassungslosigkeit über eine derartige Militäroperation im Herzen Europas über 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges. Doch gerade die Demonstranten mit osteuropäischen Wurzeln wirkten zusätzlich verstört über die anfängliche Haltung Deutschlands.
Keine Waffenhilfe für die Ukraine, auch das Swift-Abkommen wurde zunächst nicht angetastet, allen Bekenntnissen zum Trotz, Putin müsse mit schärfsten Konsequenzen rechnen.
Diese Widersprüche sorgten bei vielen Demonstranten, die noch am Tag vor der Sondersitzung des Bundestags, auf der eine grundlegende Neuorientierung der Außen- und Sicherheitspolitik auf den Weg gebracht wurde, auf die Straße gingen, für eine gewisse Hilflosigkeit in Anbetracht des Krieges. Vor der ukrainischen Botschaft wurden seit Kriegsbeginn am 24. Februar Berge von Blumen niedergelegt, dazu brennen Kerzen. Seitdem ist auch Marianna Vykhovanko jeden Tag vor der Botschaft dabei. Die 27-Jährige ist vor knapp vier Jahren aus der Westukraine nach Berlin gekommen. Nach dem Aufnahmeverfahren konnte sie vor zwei Jahren eine Ausbildung zur Bürokauffrau beginnen. Ihre Familie lebt weiterhin in der Ukraine, im Sommer vergangenen Jahres hat sie ihre Eltern das letzte Mal gesehen. „Ich habe meine Eltern noch Anfang Februar angefleht, sie sollen zu mir nach Berlin kommen. Ich habe eine kleine Wohnung, dort könnten sie vorübergehend leben, ich könnte dann bei meinem Freund wohnen. Aber sie wollten nicht, sie wollen ihre geliebte Heimat nicht im Stich lassen.“ Marianna spricht nach nicht mal vier Jahren in Berlin beinahe aktzentfrei Deutsch. Sie verfolgt seit Wochen sehr genau die Nachrichten sowohl im deutschen, aber natürlich auch im russischen und ukrainischen Fernsehen. „Was mich wirklich wütend gemacht hat, dass nach dem Angriff gerade hier in Deutschland so getan wurde, als käme diese russische Aggression überraschend. Aber allen war doch seit spätestens Ende Januar klar, dass wir in der Ukraine angegriffen werden, aber das wollte hier niemand wahrhaben.“ Spätestens nach dem Einmarsch fiel die 27-Jährige endgültig vom Glauben ab, als Deutschland zunächst Waffenlieferungen verweigerte. „Was sollte das denn mit den 5.000 Helmen, davon haben wir mehr als genug und mit Helmen hält man keine Invasions-Armee auf, wir brauchen Waffen, um uns zu verteidigen“.
„Großer Teil der Russen billigt den Krieg nicht“
Bislang waren Waffenlieferungen in Krisen- und erst recht Kriegsgebiet für Deutschland tabu. Aber angesichts der Entwicklungen hat die Bundesregierung – mit Unterstützung des Bundestags – auch in dieser Beziehung die bisherige Politik geändert. „Ja, aber viel zu spät, die hätten längst da sein müssen“, sagt Marianna Vykhovanko, der während des Gesprächs über die Situation in ihrer Heimat, der Zerstörungen, der Toten, der Sorge um ihre Eltern die Tränen in die Augen steigen. Aus Enttäuschung über die bisherige Politik in ihrer Heimat Deutschland. Die 27-Jährige glaubt, wenn Waffen früher geliefert worden wären, hätte Putin nicht den Angriffsbefehl gegeben.
Neben ihr hat gerade ein ukrainisches Ehepaar, beide Mitte dreißig, Blumen niedergelegt. Über ihre Schultern haben sie die ukrainische Flagge drapiert, stehen Händchenhaltend vor dem Blumenmeer. Ehemann Dimitri hat schweigend zugehört, nimmt Marianna tröstend in den Arm, doch dann bricht es aus ihm heraus. „Es ist richtig, jetzt schickt Deutschland Waffen, aber was sollen wir denn mit 1.000 völlig überholten Panzerfäusten und 40 Jahre alten Stingerraketen. Die haben vielleicht im Afghanistankrieg die Russen beeindruckt, aber jetzt sind ihre Hubschrauber doch viel besser ausgerüstet. Also nicht nur zu wenig, sondern nicht zu gebrauchen.“ Dimitri und seine Frau Vanessa stammen aus der Ostukraine, sind seit 2014 in Berlin, beide wollen ihren vollen Namen und Gesicht nicht preisgeben. „Wir haben noch Familie in der Ostukraine, überall sind russische Saboteure unterwegs, wir haben Angst vor Repressalien gegen unsere Leute.“ Den Einwurf, dass Deutschland jetzt ja einen 100-Milliarden-Verteidigungsplan auf den Weg gebracht hat, lässt er nicht gelten. „Das hätte Deutschland vor 2014 machen müssen. Spätestens mit der Eroberung der Krim und der Teilbesetzung des Donbass und Luhansk war doch klar, dass dies nur der Auftakt zu weiteren Aggressionen war.“ Auch Dimitri ist wie so viele seiner Landsleute nicht nur enttäuscht, sondern entsetzt über die scheinbare Hilflosigkeit der deutschen Politik. „Hätte man die Ukraine in die Nato geholt, hätte Putin sich es nicht getraut, den Bündnisfall zu riskieren. Doch in Moskau wusste man sehr genau um die militärische Schwäche des Westens“, ist sich Dimitri sicher.
Etwas abseits vor der ukrainischen Botschaft im Herzen Berlins steht Fetjor K. mit versteinerter Miene. Der 23-jährige Mann studiert seit zwei Jahren Klimatechnik, ursprünglich stammt er aus Moskau, doch seine Eltern stehen dem Regime von Wlademir Putin sehr kritisch gegenüber, sind lieber nach Berlin übersiedelt. „Als Russe beschämt es mich, was da gerade passiert“, sagte er. „Aber ich mahne, es sind nicht die Russen, die da schießen. Ein großer Teil der Russen billigt diesen Krieg nicht, die Ukrainer sind unsere Brüder und Schwestern, das dürfen wir nicht vergessen.“ Auch Fetjor K. sieht ein nicht unerhebliches Versagen des Westens im vergangenen Jahrzehnt, doch eine Alternative zum derzeitigen Handeln kann der 23-Jährige auch nicht nennen. „Es war immer der Trugschluss der westlichen Regierungen, dass man mit Putin verhandeln kann, weil er ja seine Rohstoffe verkaufen will. Daraus ist nun eine wirtschaftliche Abhängigkeit geworden, die Putin zum Krieg geradezu herausgefordert hat.“ Dass umgekehrt Russland den Westen als Handelspartner braucht, lässt der junge Mann aus der russichen Hauptstadt nicht gelten. „Dann verkauft Russland eben sein Gas und Öl nach China“, macht sich Fetjor K. wenig Illusionen. Das einzige, was für die ukrainisch-russische Diaspora hier in Deutschland eine kleine Genugtuung ist, sind die großen bundesweiten Demonstrationen der letzten Tage. Doch Marianna, Dimitri und Fetjor haben wenig Hoffnung, dass sich Wladimir Putin davon beeindrucken lässt.