Timo Boll kann es nicht lassen. Er bleibt auch jenseits der 40-Jahre-Grenze am kleinen weißen Ball. Bei Premiere des Grand-Smash-Turnierformats in Singapur gibt der Top-Ten-Star über drei Monate nach seinem Altersrekord beim Gewinn von Bronze bei der WM und der anschließenden Verletzungspause sein internationales Comeback.
Als Timo Boll in den 80er-Jahren mit dem Tischtennis begann, fanden auch größere Tischtennis-Turniere wie German Open oder French Open zumeist in passenden Turnhallen statt, die Boxen auf dem mit Handball- und Basketball-Linien markierten Boden waren mit bestenfalls farblich in Grün aufeinander abgestimmten Werbeaufstelllern umrandet, jeder Satz ging bis zum 21. Punkt und Sieger erhielten als Anerkennung eine versilberte Ehrengabe und einen Blumenstrauß.
Heute ist Timo Boll geradezu ein Tischtennis-Methusalem. In den Arenen sind für Tischtennis-Events spezielle Böden in ausgetüftelten Farben verlegt, die Spielfläche wird von hohen LED-Banden begrenzt, einzelne Sätze werden nur noch bis zum elften Punkt ausgespielt und die Serie für internationale Turniere hat nach Pro Tour und World Tour schon ihren dritten und nach den Vorstellungen ihrer Macher im Idealfall auch ultimativen Namen: World Table Tennis oder kurz: WTT.
Dadurch erlebt aber selbst Boll drei Tage nach seinem 41. Geburtstag ab dem 11. März in Singapur noch einmal etwas vollkommen Neues. WTT feiert in dem Stadtstaat die Premiere eines Grand-Smash-Turniers. Vier Events dieses Formats sollen nunmehr jährlich sowohl hinsichtlich einer exquisiten Besetzung als auch einer außerordentlichen Dotierung die Premium-Produkte der Branche sein.
„Das wird sicherlich interessant zu sehen, was die Organisatoren sich ausgedacht haben und planen“, meinte Boll vor seiner Abreise nach Asien kurz nach dem Champions-Legaue-Halbfinalrückspiel seines Clubs Borussia Düsseldorf gegen Pokalsieger 1. FC Saarbrücken-TT: „Nach allem, was man hört und bisher gesehen hat, kann man gespannt sein.“
Neugier herrscht in Singapur jedoch auch mit Blick auf Bolls Fitness. Singapur bedeutet für den Europameister den dritten und letzten Schritt zurück auf absolutes Weltklasse-Niveau. Ende Januar hatte der Linkshänder erstmals nach seinem Bauchmuskel-Anriss beim WM-Turnier zwei Monate zuvor in Houston/Texas wieder für Düsseldorf in der Bundesliga zum Schläger gegriffen, und abgesehen von einem Einsatz im ersten Champions-League-Einsatz im ersten Halbfinale gegen Saarbrücken meldete sich Boll am letzten Februar-Wochenende beim Europe Top 16 im schweizerischen Montreux auch international wieder zurück.
Boll freut sich auf das neue Format
Bei seinem Auftritt in Singapur strahlt Bolls Aura noch etwas heller als vor der WM schon, ist sein Status noch mehr der einer lebenden Legende. Denn wie der Routinier in Houston dem Dauerschmerz in seinem Oberkörper durch die Bauchmuskelverletzung von Runde zu Runde mehr getrotzt, gekämpft und sich buchstäblich gequält hatte, war wirklich heroisch.
Der Lohn der Schinderei ohne Rücksicht auf sich selbst war außer Bronze ein Rekord für die Ewigkeit: Durch seine zweite Einzelmedaille bei einem WM-Turnier nach schon einmal Bronze 2011 in Rotterdam avancierte der „Herr der Bälle“ in der 95-jährigen WM-Historie zum ältesten Gewinner eine Plakette im Herren-Einzel. Mit 40 Jahren und 264 Tagen überbot Boll die 92 Jahre alte „Bestmarke“ des 1891 geborenen Ex-Weltmeisters Zoltán Mechlovits aus Ungarn von Anfang 1929 bereits deutlich.
An der Rolle als Grandseigneur der Tischtennis-Elite findet Boll auch zunehmend Gefallen. Inzwischen gibt der dienstälteste Top-Ten-Spieler der Welt sogar ohne Umschweife für die Sommerspiele 2024 in Paris seine siebte Olympia-Teilnahme als nächstes großes Ziel seiner Laufbahn an. Dann wäre der gebürtige Hesse schon über 43 Jahre alt.
„Es hört sich verrückt an, aber ich werde es versuchen“, bestätigte Boll seine Paris-Ambitionen erstmals öffentlich: In seinem Alter seien „zwei, drei Jahre zwar eine lange Zeit, und jede Trainingswoche ist hart, aber ich hätte mir auch nicht vorstellen können, mit 40 noch in der Weltspitze mitspielen zu können. Auf zum nächsten Oldie-Rekord“. Davon hält Boll schon einige – darunter der so bedeutsame Altersrekord für Weltranglistenerste (36 Jahre), Einzel-Europameister (40), Europe-Top-16-Sieger (38) oder auch deutsche Einzel-Champions (37).
Nächster Rekord bei Olympia in Paris?
Im Falle seines Olympia-Starts in Paris würde Boll in den Kreis der deutschen Rekordteilnehmer an Sommerspielen aufsteigen. Bislang gingen nur der Sportschütze Ralf Schumann und der Springreiter Ludger Beerbaum siebenmal bei Sommerspielen für Deutschland an den Start.
Bolls Nationalmannschafts-Kollege Dimitrij Ovtcharov hält sogar eine Olympia-Teilnahme des deutschen Ausnahmeathleten an den Sommerspielen 2028 in Los Angeles für möglich. „WM-Bronze mit 40 ist eine Wahnsinnsleistung, und auch wenn bisher schon Paris 2024 nicht zur Debatte gestanden hatte, bin ich jetzt davon überzeugt, dass er bei Olympia in Paris am Start sein wird und auch Los Angeles 2028 nicht ausgeschlossen ist. Er hat eine Spielintelligenz wie kein Zweiter und dadurch auch noch in seinem Alter eine solch hohe Qualität“, begründete der frühere Weltranglistenerste seine Einschätzung.
Boll kann sich auch ohne Olympia 2024 kein kurzfristiges Ende seiner imponierenden Karriere vorstellen. „Ich versuche, es noch weiter hinauszuzögern“, erklärte der zweimalige Weltcupsieger: „Der Sport macht mir immer noch viel Freude und Spaß, und wenn mein Körper mitmacht, traue ich mir auch immer noch etwas zu. Den Moment wird man spüren, wenn die Zeit gekommen ist, aber noch ist es nicht so weit.“
Folgerichtig verlängerte der „ewige Boll“ seinen Vertrag in Düsseldorf kurz vor den Champion-Legaue-Duellen mit Saarbrücken kurzerhand gleich einmal um drei Jahre bis 2025. „Ich habe eben noch unheimlich viel Spaß“, sagte „Mr. Borussia“ über seine mittelfristige Karriereplanung.
Spaß dürfte Boll auch die Entwicklung der neuen Turnierserie WTT machen – nicht zuletzt in finanzieller Hinsicht. Die Strippenzieher locken die Elite mit einem Rekordpreisgeld von zwei Millionen Dollar (umgerechnet 1,75 Millionen Euro) zur Grand-Smash-Premiere nach Singapur – bislang eine utopische Dotierung. Aus dem größten Prämientopf der Tischtennis-Geschichte bei einem offiziellen Turnier kassieren alleine die Sieger der beiden Einzelkonkurrenzen jeweils etwa 100.000 Dollar (88.000 Euro).
Boll mit überragender Spielintelligenz
Grand-Smash-Turniere sollen den WTT-Plänen zufolge analog zu den Tennis-Grand-Slams die vier wichtigsten Tischtennis-Wettbewerbe neben Olympia-Turnieren werden. Das Premium-Paket soll die Spitze einer ineinander verzahnten Wettbewerbspyramide mit insgesamt fünf Ebenen bilden. Kurz nach der Veröffentlichung der WTT-Turnierstrategie vor zwei Jahren noch vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie hatte das Management Pläne zur Abschaffung von WM-Turnieren lanciert, die Gedankenspiele nach einem internationalen Sturm der Entrüstung allerdings zurückgestellt. Außer Singapur stehen noch keine weiteren Schauplätze und Termine für Grand-Smash-Turniere fest. Anders als der Weltverband ITTF für seine ehemaligen World-Tour-Turniere fordert WTT von interessierten Verbänden extrem hohe Garantiesummen für die Turnierlizenz. Zudem erhalten Veranstalter kaum Vermarktungsrechte und haben damit nur schlechte Möglichkeiten zur Refinanzierung.
In der Szene herrscht mit Blick auf WTT Skepsis. Für Unmut sorgt in vielen Verbänden, dass Turniere sehr kurzfristig und ohne Rücksicht auf bereits bestehende Spielpläne der nationalen Ligen angesetzt werden. Für Singapur löste die Bundesliga die Terminkollision mit einem Spieltag durch eine Verlegung der betroffenen Begegnungen in den laufenden Monat.
Dennoch hatte der Deutsche Tischtennis-Bund (DTTB) nach der Ausrichtung von gleich drei WTT-Turnieren der untersten Stufe binnen sieben Wochen in den Hallen von Bolls Club Düsseldorf ungeachtet früherer Differenzen mit dem WTT-Management grundsätzliches Interesse an einem Grand Smash signalisiert. Werbung auch durch ein Topturnier kann der Verband auch brauchen – Boll wird entgegen des derzeitigen Eindrucks nicht ewig spielen.