Der Krieg in der Ukraine hat zu massiven Neuorientierungen in der deutschen Politik geführt. Die Parteien tun sich mit den Anforderungen der neuen Realität schwer.
Der russische Angriff auf die Ukraine sorgte innenpolitisch für viele Überraschungen. Den Auftakt machte Bundeskanzler Scholz mit dem 100-Milliarden-Aufbauprogramm für die Bundeswehr. Doch auch Vizekanzler Habeck sorgte für einigen Wirbel, als der grüne Spitzenmann und Klimaminister öffentlich über längere Laufzeiten für die drei noch verbliebenen Atomkraftwerke nachdachte. Seine Parteifreunde waren reichlich irritiert, Entsetzen bei der Grünen Jugend. Doch die Idee wurde umgehend gleich wieder kassiert. Nicht etwa vom Klimaminister selbst oder seinen Parteifreunden, sondern von den Betreibern der Atomkraftwerke selbst. Die erklärten dem grünen Klimaminister, dass eine Laufzeitverlängerung oder gar das Wiederanfahren der erst an Silvester abgeschalteten AKWs aus Genehmigungsgründen äußerst kompliziert werden würde. Doch es kommt noch besser. Die vorhandenen Uran-Brennstäbe reichten nur für die drei noch laufenden Meiler und das auch nur bis zum Ende des Jahres. Eine Neubeschaffung würde mindestens anderthalb Jahre dauern. Aufatmen in der grünen Bundestagsfraktion über die AKW-Absage, doch der zukünftigen Energieversorgung Deutschlands ist damit nicht geholfen. Eine Verschiebung des Kohlekraftwerksausstiegs, der in acht Jahren vollzogen sein sollte, würde nur bedingt helfen. Vor allem Vizekanzler Robert Habeck ist mit seiner Argumentation nach dem russischen Angriff auf die Ukraine in schweres Fahrwasser geraten. Noch im Januar hatte Habeck die Marschrichtung ausgegeben, mit dem Kohleausstieg auf Gas als Übergangslösung bis 2050 zu setzen. Bekanntlich bezieht Deutschland 50 Prozent seines Gasbedarfs aus Russland. Die Abhängigkeit würde sich laut DIW auf bis zu 75 Prozent erhöhen.
Schlammschlacht bei der Linkspartei
Um aus dieser Abhängigkeit von Russland rauszukommen, soll künftig verstärkt auf amerikanische Fracking-Gas-Lieferungen (LNG) gesetzt werden. Eine Zumutung gerade für die Grünen, denn die LNG-Gewinnung bedeutet eine erhebliche Umweltzerstörung, nicht nur in den USA, so der Naturschutzbund. War schon zuvor der fast zeitgleiche Ausstieg aus Atomenergie und Kohle eine immense Herausforderung, würde er nun durch den Krieg Russlands zu einer wahren Herkulesaufgabe. Explodierende Preise und die bange Sorge um Energiesicherheit auch im nächsten Winter sorgen schon jetzt für massive Probleme, wirtschaftlich und sozial. Die Grünen stehen mit der Übernahme des Wirtschafts- und Klimaressorts in einer ungeahnten Verantwortung.
Das gilt auch für ein zweites großes Thema, das durch den Krieg auf die Agenda kommt, und für das vor allem die Grünen in den Wahlkreisen ziemlich viel Unmut einstecken müssen. Die Bundestagsfraktion hatte sich dem stehenden Applaus nach der Regierungserklärung in der Sonntagssitzung angeschlossen, in der Bundeskanzler Olaf Scholz vor dem Parlament eine massive Erhöhung der Militärausgaben angekündigt hatte. Die Grünen-Basis, soweit sie sich als Teil der Friedensbewegung versteht, ist entsetzt. Schließlich ist die Friedensbewegug neben der Anti-Atomkraftbewegung das zweite Fundament der Grünen seit ihrer Gründung im Januar 1980 in Karlsruhe.
Doch damit stehen sie nicht allein da. Auch in der Linkspartei geht es seit dem sicherheitspolitischen Paradigmenwechsel Deutschlands hoch her. Das 100-Milliarden-Paket, mit dem die chronische Unterfinanzierung der Bundeswehr beendet werden soll, sorgt auch hier für viel Ärger, denn auch Linkspolitiker zollten dem Kanzler Applaus. Noch verworrener ist das Meinungsbild in der Partei bei der Haltung zu Russland. Ein Brandbrief um die Bundestagsabgeordnete und ehemalige Fraktionschefin Sahra Wagenknecht sorgt für großen Ärger. In dem Brief der Parteilinken im Bundestag verurteilt man zwar den Völkerrechtsbruch Putins, gibt aber auch der Nato eine Mitschuld an Putins Verhalten. Es entsteht der Eindruck, Putin habe aus Notwehr gehandelt. Der außenpolitische Sprecher der Faktion, Gregor Gysi, zeigte sich entsetzt und ist sauer, da man ihn vor Veröffentlichung des Briefes gar nicht erst gefragt hatte.
Russlandfrage bringt AfD in die Bredouille
Sahra Wagenknecht kommentierte darauf nüchtern: „Da Gysi zum Zeitpunkt des Briefes lieber bei seiner eigenen Buchvorstellung war, konnten wir ihn nicht fragen“. Schlammschlacht bei der Linken, und das nicht nur im Bundestag. Auch in den Landesverbänden geht es drunter und drüber – wobei wie so oft Ost gegen West steht.
Ein ähnliches Bild gibt auch die andere Oppositionspartei im Bundestag ab. Auch die AfD ist dabei, sich in der Russlandfrage vollständig zu zerlegen. Über drei Jahre rühmte sich die AfD, sich als einzige Bundestagsfraktion regelmäßig mit russischen Regierungsvertretern zu Konsultationen zu treffen. Informationen russischer Medien galten vielen in der AfD als glaubwürdiger als die sogenannten Mainstream-Medien hierzulande. Nun plötzlich soll man Wladimir Putin des Bruchs des Völkerrechts beschuldigen? Das dürfte die politischen Freunde in Moskau wenig erfreuen. Ein weit elementarer Bereich der AfD steht ebenfalls zur Disposition: Wie umgehen mit den ukrainischen Geflüchteten?
Partei- und Fraktionschef Tino Chrupalla ist für eine Aufnahme, „schließlich kommen sie aus einem europäischen Nachbarland und gehören zu unserem Kulturkreis“. Applaus für diese Haltung von den AfD-Westverbänden, während die „Patrioten“ in den Landesverbänden Ost darin eine Abkehr der bisherigen Haltung zur Aufnahme von Geflüchteten ihrer Partei sehen.
Nun versucht die Parteiführung, die „Patrioten“ mit einem recht simplen Argument wieder einzufangen. Gerade Osteuropäer, wie zum Beispiel auch die Ukrainer in Deutschland, seien es, die zu einem überproportionalen Teil die AfD wählen würden. Hintergrund der Zerstrittenheit in der AfD dürfte wohl auch der noch ausstehende Bundesparteitag sein, auf dem der gesamte Bundesvorstand neu gewählt werden muss. Es wird eine Richtungsentscheidung erwartet. Da kommt der plötzliche Realitätsschub durch die russischen Kampfhandlungen auch für die AfD zur Unzeit. SPD, FDP und die oppositionelle Union haben angesichts der Entwicklungen durchaus auch innerparteilichen Diskussionsbedarf.
Aber die großen Linien, wie sie Kanzler Scholz vorgezeichnet hat, werden mitgetragen – teilweise sogar ausdrücklich mit Erleichterung begrüßt. Bei der SPD hält sich die Begeisterung für die 100 Milliarden für die Bundeswehr gerade bei der Parteilinken in Grenzen. Doch realistisch betrachtet erfüllt Deutschland damit nur das, was man den anderen Nato-Partnern seit mehr als einem Jahrzehnt versprochen hat: Zwei Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung werden in die Verteidigung gesteckt. Mit diesem Argument hoffen SPD-Chefin Saskia Esken und ihr Co Lars Klingbeil wieder schnell Ruhe in die eigenen Reihen zu bekommen.
Offensichtlich gibt es in der deutschen Nachkriegsgeschichte für das Parteiensystem den „Ein-Generationen-Zyklus“. Nach dem Mauerbau 1961 mussten die Parteien ihre Ausrichtung komplett überdenken, die Wirtschaftswunderjahre West gingen ihrem Ende entgegen. Geopolitisch waren die beiden Blöcke buchstäblich zementiert.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1990 war erneutes Umdenken von den Parteien gefordert, der Kalte Krieg schien vorüber. Die Forderung, Frieden schaffen ohne Waffen, wurde zur neuen deutschen Wirklichkeit. Wie es heute scheint, war das Blockdenken offenbar nur vorübergehend ausgesetzt. Der Krieg in der Ukraine hat das zuletzt eher auseinanderdriftende Europa zusammenrücken lassen. Erhebliche Paradigmenwechsel sind im Gang. Im Jahr 2022 beginnt ein neuer „Zyklus“: Deutschland und Europa verändern ihr Gesicht.