Blick in die Glaskugel durch die Fahrradbrille: 2022 wird das Jahr der Nachhaltigkeit und Rücksichtnahme – glaubt man den Auflagen, die sich die Branche gibt. Und es gibt Anlass, im Sattel noch unternehmungslustiger zu werden.
Fahrradfahren ist in wie nie. Und sollte die Beliebtheitskurve nicht jäh abknicken – worauf nichts hindeutet – wird sich das auch 2022 nicht ändern. Die Leute strömen in die Natur, wo sie die Maske absetzen, wo sie sich von den Corona-Auflagen befreien können, die der Alltag ihnen vorschreibt. Das ist mehr als nur Erholung im Freien. Im Fahrwasser der neuen Lust an Ausflügen im Sattel verfestigen sich sowohl Reise-, Produkt- als auch technische Trends: Digitalisierung und Integration schreiten voran – mit dem Ergebnis smarter Lösungen, die auch den Radleralltag einfacher machen sollen. Die Vernetzung von Radwegen soll das Reisen abwechslungsreicher machen. Um möglichst für alle Eventualitäten gewappnet zu sein, verwischen beim Produkt Fahrrad zum einen die Genregrenzen: Das SUV-Bike besitzt Mountainbike-Gene, fährt aber mit Vollausstattung wie an einem Trekkingrad – etliche Hersteller setzen gerade auf diesen Alleskönner. Auch differenzieren sich Fahrradgattungen weiter aus. Hier kommen die neuen Trends:
Beliebte Mikroabenteuer
Die Radreiseanalyse des ADFC zeigt: Touren über mehrere Tage mit Übernachtung unternehmen während der Corona-Pandemie zwar weniger Menschen – doch das bedeutet nicht, dass sie weniger in den Sattel steigen: Denn Tagesausflüge sind unter Deutschlands Radlern der Hit, ihre Anzahl nahm 2020 um satte 40 Prozent auf 464 Millionen zu. Kurzum: Das Mikroabenteuer vor der Haustür liegt voll im Trend, der sich 2022 wohl fortsetzen wird. Und die beobachtete Evidenz passt dazu: Kaum ein Ausflug in die Natur, bei dem man auch im noch jungen Jahr nicht auf andere Radler trifft. Die sitzen auf Mountain- oder Trekkingbikes oder immer öfter auch auf einem Gravelbike, dem Boom-Rad der vergangenen Jahre, das nach Einschätzung des Pressedienst-Fahrrad (PdF) und Radsport-Medien wohl noch populärer werden wird. „Der Trend, mit Rennlenker abseits von asphaltierten Straßen unterwegs zu sein, spricht immer mehr Menschen an“, so der PdF.
Erwartbare Begleiterscheinung ist, dass sich das Gravelbike weiter ausdifferenziert. Die Schotterbikes fahren in vielen Schattierungen vor. Die Branche will individuelle Bedürfnisse der Kunden passgenau bedienen – oder wecken. Mit nachgiebigeren Federelementen nähert sich das Gravelbike dem Mountainbike an, mit einer Vielzahl von Montagepunkten, aber auch dem Bikepacking, bei dem reduziertes Gepäck in Taschen an Rahmen und Lenker mitfährt. Purismus und Race-Feeling vermitteln Gravelbikes mit Rennradgeometrie und dünneren Reifen. 2022 plant der Weltradsportverband sogar erstmals eine „Gravel World Series“.
Analoge Vernetzung
Mit der Pandemie sind viele bekannte Fahrradfernwege, zum Beispiel der Elberadweg, zur Saison überlastet. Es wimmelte von Radlern. „Manche brachen ihre Reise sogar ab“, sagt Iris Hegemann von der Deutschen Zentrale für Tourismus (DZT). Um Druck von den Trassen zu nehmen, arbeitet man nun an einem großen Vernetzungsprojekt, das gerade Fahrt aufnimmt: der Ausbau des „Radnetz Deutschland“, der vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) bis 2023 mit 45 Millionen Euro gefördert wird. „Fahrradtourismus ist so beliebt, weil man ihn sehr individuell gestalten kann“, sagt Hegemann. Corona habe neue Zielgruppen geschaffen. Der Radtourismus sei ein stabiler Wachstumsmarkt, der 2022 auch für Reiseveranstalter „viel interessanter werden wird“. Entsprechend dick sind die Kataloge von Anbietern wie Radweg Reisen oder Rückenwind.
Im Rahmen von „Radnetz Deutschland“ sollen zwölf sogenannte D-Routen – vom Iron Curtain Trail bis zum Radweg Deutsche Einheit und insgesamt 12.000 Kilometer lang – zu einem dichteren Netz verwoben und modernisiert werden. Der Gedanke: Radreisende sollen individuelle Routen planen können, die hochfrequentierten bekannten Fernradwege sollen dadurch entlastet werden.
Mehr Trails
Auch Mountainbiken boomt wie nie. In Deutschland sei es zum Breitensport geworden und „noch beliebter als Fußball spielen“, behauptet der PdF. Doch zuletzt war viel die Rede von Konflikten zwischen Fahrradfahrern und Spaziergängern. Tatsächlich lastet auch Druck auf den Wäldern: Naturparks und Erholungsregionen erleben laut Mountainbike Tourismusforum (MTF) in Leipzig aktuell einen Besucher-Run von Wanderern und Joggern, aber auch Radfahrern und vor allem Mountainbikern.
Zumindest ist Besserung in Sicht. So hat das MTF unter dem Namen Bike Spirit 4.0 eine Initiative ins Leben gerufen, viele Unternehmen aus der Branche beteiligen sich. „Ihr Ziel ist, mit nachhaltigen Lösungen Aufklärungsarbeit zu leisten, Konflikte zu vermeiden und für mehr Miteinander im Wald zu sorgen“, so der PdF. Mountainbiken, teils auf illegalen Trails praktiziert, soll naturverträglicher werden. Hoffentlich wird die Initiative 2022 reich Früchte tragen, denn in beliebten Tourismusregionen fehlt es oft auch an spezifischen Angeboten für Mountainbiker.
Immerhin wird weiter gebuddelt und modelliert. Denn: Die Bikeparks der Republik erleben vielerorts Besucherrekorde. Bereits im vergangenen Jahr wurden bundesweit viele neue Trails und Pumptracks errichtet – ob im thüringischen Bikepark Oberhof, im Fichtelgebirge oder im sächsischen Erzgebirge, wo die „Blockline“ ihre erste Saison feierte. Neue Bikeparks eröffnen, zum Beispiel im niedersächsischen Bilshausen. Der 2021 eröffnete Park „Wolfstrails“ im hessischen Friedewald wird ausgebaut, so soll der Flowtrail auf 900 Meter verlängert werden. Im Bikepark Willingen wird ein neuer Übungsparcours entstehen. Und eines der ehrgeizigsten Projekte reift in Franken. Zwischen Lichtenfels und Bamberg, knapp 40 Kilometer voneinander entfernt, soll einer der längsten Singletrails der Republik entstehen.
Immer mehr Allrounder
Als die Alleskönner unter den Bikes galten bislang die Trekkingbikes, die der ADFC auf seiner Website als die Fahrräder mit dem „breitesten Einsatzspektrum“ bezeichnet. Das dürfte sich mit den SUV-Bikes überholt haben. Zwar finden Trekkingfahrräder dank ihrer Alltagstauglichkeit mit verkehrssicherer Vollausstattung noch immer viele Abnehmer – sie stellen am Markt laut Zweirad-Industrie-Verband die absatzstärkste Gattung dar. Doch die SUV-Bikes, typischerweise als Pedelec aufgebaut, holen auf.
Sie stellen die nächste Zündstufe dar: Zur Vollausstattung mit Licht, Reflektoren, Gepäckträgern und Schutzblechen kommen profilierte Breitreifen, ein robusterer Rahmen, Federgabeln und Mountainbike-Gene, die an einen Freiheitsgeist appellieren: Denn mit ihnen ins Gelände vor der Haustür zu fahren, ist anders als bei ihren erfolgreichen Auto-Pendants kein Problem – und besser möglich als mit einem Trekkingrad. Im Alltag sind sie die perfekten Fahrräder für Pendler, die es dank Elektro-Rückenwind bequemer angehen lassen können. Etliche Hersteller von Corratec und Rotwild über Bulls, Hercules oder Flyer und Winora bis zur kroatischer Marke Greyp haben E-SUVs für 2022 im Programm.
Digitalisierung und Integration
Das Smartphone als digitaler Schlüssel fürs E-Bike oder das Display im Handgriff integriert? Digitalisierung und Integration sind Megatrends, die seit Jahren den Mobiliätssektor und ganze Lebensbereiche umkrempeln und fortschreiben. Die neuen Produkte sind einfallsreich. Zum Beispiel der Smart Grip D500+ von Promovec, der auf der Eurobike 2021 mit einem Gold Award ausgezeichnet wurde: Der Handgriff mit integrierten Bedientasten zeigt in einem Mini-Display die Einstellungen des E-Antriebs und Daten wie den Akku-Ladestand an. Beim Schalten gibt es ein haptisches Feedback.
Auch andere Marken treiben die Integration voran. Der Trend dabei ist das Smartphone als Steuerungszentrale des E-Bikes. Bosch und Brose haben neue digitale Lösungen mit eigenen Apps entwickelt, die praktische Zusatzfunktionen versprechen und den Fachhandel bei Service-Arbeiten unterstützen. Herstellergebundene Bedieneinheiten werden immer öfter im Vorbau integriert.
Cannondale hat eine App entwickelt, die per Augmented Reality bei Reparaturarbeiten benötigte Ersatzteile anzeigen kann. Der US-Hersteller Cannondale bringt auch ein Smart Sense genanntes System: Ein Radsensor weckt das E-Bike bei Bewegung auf, ein integrierter Radar warnt vor rückwärtigem Verkehr, die Beleuchtung verschwindet im Rahmen, gesteuert werden kann alles über eine App.
Fahrräder vereinen unter dem Stichwort Integration auch immer mehr smarte Funktionen und Bauteile, die sie im Sinne der StVZO straßentauglich machen, zugleich bleibt die Optik clean. Bedienknöpfe und Kontroll-LEDs werden in den Rahmen eingelassen, Rückleuchten sieht man jetzt auch in den Sitzstreben. Verkehrssicherheit und schickes Design schließen sich nicht mehr aus.
Organisierte Nachhaltigkeit
Die Pandemie hat auch der Radbranche vor Augen geführt: Die Abhängigkeit von Asien – Stichwort Lieferengpässe und explodierende Frachtkosten – führt in Krisenzeiten zu offenkundigen Problemen. Fahrräder, falls überhaupt zu bekommen, sind viel teurer geworden, auch weil Rohstoffpreise gestiegen sind. Der Großteil der Fahrradrahmen kommt immer noch aus Fernost, allem voran aus Taiwan. Doch nachhaltig im Sinne des Klimaschutzes sind allein die langen Transportwege nicht. Einige Hersteller erwägen, Produktionsstätten nach Europa zu verlegen oder die Rahmenproduktion selbst in die Hand zu nehmen. Dazu zählt die kleine Fahrradmarke Sour Bicycles aus Dresden, die vor der Haustür im sächsischen Vogtland das Projekt Home Brew startet: 2022 verlegt das junge Unternehmen die gesamte Mountainbike-Rahmenproduktion nach Deutschland.
Sour Bicycles ist nicht allein: Auch Coboc aus Heidelberg, Hersteller von aufgeräumten E-Bikes, verhandelt unter anderem mit einem deutschen Automobilzulieferer über eine automatisierte Rahmenproduktion und hat die Fertigung einzelner Spritzgussteile bereits aus Fernost zurückgeholt, montiert wird ohnehin bereits hierzulande. Die Marke Urwahn aus Magdeburg, bekannt für Rahmenteile aus dem 3D-Drucker, lässt schon länger in Deutschland fertigen, Ruff Cycles, selbst ernannter Marktführer bei den Custom-E-Bikes schätzt sich laut Geschäftsführer Pero Desnica angesichts der Krise glücklich, im bosnischen Travnik eine Schweißerei zu betreiben: „Hätten wir nicht eine eigene Fertigung, dann wären wir Asien ausgeliefert und wohl nicht mehr am Markt.“
Aber auch jeder einzelne Biker kann nachhaltig handeln: Über 70 Millionen Fahrräder gibt es in deutschen Haushalten. Einige davon dürften in Kellern oder Böden verstauben. Da ließe sich doch sicher zum Frühjahr das ein oder andere Bestandsexemplar fit machen – ganz im Sinne des Upcycling-Trends!