Noch vor dem Saisonstart der Formel 1 am Sonntag in Bahrain ist die Königsklasse durcheinandergewirbelt worden. Der Russe Nikita Mazepin ist mit seinem Titelsponsor aus dem Haas-Rennstall geflogen und der Russland-GP aus dem Kalender. Ungeachtet der russischen Invasion in der Ukraine startet der Sport in eine neue Ära.
Russlands Überfall auf die Ukraine hat auch Auswirkungen auf die Königsklasse Formel 1. Die Folgeerscheinungen waren zentrales Thema vor dem Saisonauftakt. So gerieten die dreitägigen Testfahrten in Barcelona als heiße Vorbereitungsphase auf die neue Saison schon am ersten Tag zur Nebensache. Unmittelbar nach der Nachricht vom Einmarsch der Russen in die Ukraine bezog Sebastian Vettel klar Position. Der Aston-Martin-Pilot zeigte Kante. Und wie! Entschlossen bekräftigte der Deutsche: „Meine Entscheidung steht schon fest. Ein Start beim Russland-Grand-Prix kommt für mich nicht infrage. Ich werde in Sotschi nicht fahren. Ich bin wütend, fassungslos, schockiert und finde es grauenhaft zu sehen, was dort passiert." Das saß.
Seit 2014 gastiert der F1-Rennzirkus in Sotschi. Für den 25. September war der Auftritt am Schwarzen Meer geplant. Der Invasion geschuldet, ist das Rennen abgesagt. In diesem Jahr sollte letztmals in Sotschi gefahren werden. Ab 2023 war der Umzug vor die Tore St. Petersburgs geplant. Doch das Putin-Projekt ist auf Eis gelegt. Nebenbei: Beim Angebot von Grand-Prix-Strecken war die Formel 1 noch nie zimperlich, wenn es um Austragungsländer ging, in denen Despoten, Diktatoren, Autokraten regierten und Menschenrechte verletzt werden.
Portimão in der südportugiesischen Region Algarve hat neben der Türkei, Singapur und China die besten Chancen, das aus dem Kalender geflogene Russland-Rennen zu ersetzen. Zuletzt hatte die Formel 1 im Jahr 2011 aus politischen Gründen auf ein Rennen verzichtet. In Bahrain wurde damals nach politischen Unruhen der Grand Prix boykottiert, nachdem dort auch Menschen ums Leben gekommen waren.
Betroffen von Russlands Angriffskrieg ist auch der US-Rennstall Haas. Er zog nach zähem Zögern die Reißleine. Mit Nikita Mazepin hat er seit 2021 einen russischen Fahrer im Cockpit. Der 23-Jährige ist der einzige Russe unter den 20 F1-Piloten. Sein Vater Dimitri (53) ist Milliardär, Mehrheitsaktionär und Vorsitzender des russischen Bergbauunternehmens und Chemiekonzerns Uralkali. Der Düngemittel-Gigant war größter Geldgeber des Haas-Teams. Der Oligarch butterte mit Uralkali als Namens- und Titelsponsor geschätzte 40 Millionen in die Haas-Kasse und zahlte die Zeche, damit sein Sprössling sich in der Königsklasse versuchen durfte. Nach 22 F1-Rennen war das Intermezzo jetzt beendet. „Das Haas-F1-Team hat beschlossen, die Titelpartnerschaft mit Uralkali und den Fahrervertrag mit Nikita Mazepin mit sofortiger Wirkung zu beenden", teilte Haas in einer Stellungnahme mit. Erschwerend kam hinzu, dass Mazepin-Senior sehr enge Beziehungen zu Kreml-Chef Putin pflegt. Nachfolger des geschassten Mazepin ist beim Haas-Team ein alter Bekannter: Kevin Magnussen (29) wird den ausgebooteten Russen ersetzten und ist neuer Teamkollege von Mick Schumacher. Der Däne bestritt 119 Grands Prix, fuhr von 2017 bis 2020 bereits für den US-Rennstall. Teambesitzer Gene Haas wollte für die Rennen einen erfahrenen Piloten. Der bisherige Testfahrer Pietro Fittipaldi (25), Enkel der brasilianischen Rennlegende Emerson Fittipaldi (1972 und 1974 F1-Weltmeister), durfte bei den Testfahrten in Bahrain (10. bis 12. März) den Haas-Boliden bewegen. Bei dieser letzten dreitägigen Generalprobe für den Saisonauftakt hat Weltmeister Max Verstappen im Red Bull die Bestzeit erreicht. Allzu viel bedeutet dieser „Rekord" dem Niederländer aber nicht. „Im Moment denke ich nicht, dass wir um Siege kämpfen werden", stapelt Verstappen tief. In die gleiche Kerbe haut sein WM-Vorgänger Lewis Hamilton, der zuvor nach dreitätigen Tests in Barcelona die Bestzeit aufgestellt hat und jetzt in Bahrain nur 17. und Vorletzter wurde (vor Haas-Wiederverpflichtung Kevin Magnussen). „Wir sind derzeit nicht an der Spitze. Ich denke nicht, dass wir um Siege kämpfen werden."
Allzu große Bedeutung sollte man diesem traditionellen Schaulaufen vor Beginn der Rennsaison generell nicht beimessen. Diese Testfahrten als kurzes Vorbereitungs-Intermezzo sind mit Vorsicht zu genießen. „Bei diesen Tests wird mehr oder weniger noch rumgespielt", bekannte Aston-Martin-Pilot Sebastian Vettel. Erste aussagekräftige Antworten auf das neue Kräfteverhältnis könnte es beim Qualifying geben. Dann werden die Karten erstmals aufgedeckt. Oder wie es der alte Haudegen Hans-Joachim „Strietzel" Stuck auf seine ihm eigene Art auszudrückten pflegte: „Dann werden die Hosen heruntergelassen."
Mit 23 Rennen ist die 73. Formel-1-Saison so aufgebläht wie nie zuvor. Auftakt ist am Sonntag (20. März, 16 Uhr, auf Sky). Neue Regeln, neue Autos, neue Farben, neue Reifen, neue Namen, neue Fahrer, neue Verträge, neuer Rennleiter, neuer FIA-Präsident, neue Strecke, neuer Budgetdeckel und eine Neuauflage des packenden Duells zwischen Weltmeister Max Verstappen und dessen Herausforderer Lewis Hamilton – dieses ganze „Konsortium" soll für einen weiteren Stimmungsaufheller sorgen und den Vergnügungsfaktor weiter erhöhen. Ungeachtet der weltwirtschaftlichen Lage und der Corona-Krise hat sich die Champions League des Motorsports prächtig entwickelt. Ob sich die neuen Autos auch auf den Rennstrecken prächtig „entwickeln", wird sich im Laufe der Saison zeigen. Optisch ist der Jahrgang 2022 mit jenem aus dem Vorjahr nicht vergleichbar. Dafür sorgte die wohl größte technische Regel-Revolution in der Geschichte. Sie stellte die F1-Autos zum Teil auf den Kopf. Für den (technischen) Laien aber auf den ersten Blick erkennbar: Die breiten Seitenkästen, die großen Reifen und die langen Nasen. Die technischen Raffinessen verbergen sich unter der Karbonhaut. Nach den neuen Vorgaben des Technik-Reglements waren die Ingenieure beim Design bedeutend eingeschränkter als früher. Doch bei den Nasen durften sich die Aerodynamiker noch kreativ zeigen und austoben. Auf dem Fotovergleich der zehn Boliden stechen Ferrari, Mercedes und Alpha Tauri mit den längsten Nasen heraus, wobei der Ferrari-„Zinken" ein echter Hingucker ist. Nicht minder sind es die Reifen. Neben den aerodynamischen Änderungen kommen Felgen mit einem Durchmesser von 18 Zoll anstelle von 13 Zoll ins Rollen. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass laut Pirellis Sportchef Mario Isola die F1-Autos mit einem höheren Gewicht von elf Kilogramm auf die Strecke gehen. Das bisherige Mindestgewicht von 752 Kilo steigt in dieser Saison um 40 Kilo auf 792 Kilo an.
Technisch hat sich vieles geändert, sportlich gesehen hingegen kaum. Eine der wenigen Neuerungen: Die Rennställe müssen mindestens bei einem Freitagstraining einen „Young Driver" auf die Strecke schicken. Dieser soll für die jeweilige Session das Cockpit des Stammfahrers übernehmen, um sich an den Einstieg in die Formel 1 heranzutasten. In Miami in den USA wird sich am 8. Mai das komplette Fahrer-Feld an eine neue Rennstrecke herantasten. Dann müssen die Piloten 19 Kurven gegen den Uhrzeigersinn meistern. Austin in Texas, bis einschließlich 2026 Gastgeber der Königsklasse, ist dann nicht mehr der einzige Stopp der F1 in den Vereinigten Staaten.
Mit Spannung und voller Freude erwarten die Fans das Revanche-Duell Verstappen gegen Hamilton. Weltmeister gegen Herausforderer. Mercedes gegen Red Bull. Hamilton, nach seiner „Niederlage" im Abu-Dhabi-Fiasko für 54 Tage bis zum 5. Februar völlig abgetaucht, hat nur ein Ziel: Achter WM-Titel und damit alleiniger Rekordhalter vor Michael Schumacher. Verbal holte der 103-malige GP-Sieger schon den Hammer heraus. Während seiner „Social-Media-Enthaltsamkeit" hat der 37-jährige Brite sich eingebläut: „Was dich nicht umbringt, macht dich nur stärker." Rivale Verstappen, der seinen Bullen-Vertrag um fünf Jahre mit 50 Millionen US-Dollar pro Jahr bis Ende 2028 verlängert hat, verabschiedete sich von seiner persönlichen Nummer 33 auf seinem Bullen-Boliden und startet mit der Nummer eins. Sein Teamchef Christian Horner gibt schon die Richtung vor und macht deutlich, dass es für seinen Rennstall mit der neuen Bezeichnung „Oracle Red Bull Racing" darum geht, „die Nummer zu verteidigen".
Sebastian Vettel will nach einer durchwachsenen Saison mit seiner neuen „grünen Göttin" von der Regel-Revolution profitieren. Der Vierfach-Champion hofft nach Platz zwölf in der Fahrerwertung 2021 auf den Sprung nach vorn. „Ich finde, unser Auto sieht gut aus. Es hat was Futuristisches", so der Aston-Martin-Pilot bei der Vorstellung seines im klassisch „British green" lackierten Boliden und bemerkte süffisant: „Schön ist aber immer das, was am schnellsten ist." Für den 34-Jährigen, der mit dem Luxemburger Mike Krack (49) einen neuen Teamchef hat, der mit Vettel bereits in BMW-Zeiten zusammengearbeitet hat, besteht „die Herausforderung im Idealfall darin, um Siege und Podestplätze zu kämpfen." Dieser Herausforderung wollen sich auch die übrigen 19 Piloten nach der größten Regel-Revolution mit überarbeitetem Aerodynamik-Konzept und breiteren 18-Zoll-Rädern stellen. Und die Uhren werden am Sonntag auf null gestellt, ein neues (Renn-)Zeitalter beginnt. Die F1-Saison 2022 wird eine Reise ins Ungewisse. Bereits am nächsten Sonntag (27. März, 19 Uhr, auf Sky) findet der zweite Saisonlauf in Dschidda, Saudi-Arabien, statt.