Mit jedem weiteren Kriegstag fliehen mehr Menschen aus der Ukraine in die Slowakei, nach Ungarn und Rumänien. Die meisten jedoch kommen über die ukrainisch-polnische Grenze. Dort erfahren sie eine unerwartet große Willkommenskultur – allerdings nicht alle.
Anfangs waren es nur etwa 50. Jetzt sind es Tausende ukrainische Kriegsflüchtende, die täglich nach Berlin kommen. Die UN-Flüchtlingshilfsorganisation UNHCR erklärte vor einer Woche, dass bisher mehr als 2,9 Millionen Ukrainer ihre Heimat verlassen hätten. Die große Mehrheit der Menschen sucht Schutz in EU-Ländern, nicht nur in Deutschland, sondern auch in unmittelbaren Nachbarländern. Nach Polen flüchten bisher die meisten ukrainischen Schutzsuchenden. UNHCR-Angaben zufolge flohen bis zum 14. März 1.791.111 Ukrainer über die polnische Grenze. Kein europäisches Land hat bislang so viele ukrainische Kriegsflüchtlinge aufgenommen wie Polen. In Warschau geht man davon aus, dass die Zahl weiter ansteigen wird.
„Alle hoffen, dass dieser Krieg bald zu Ende geht. Aber was geschieht, wenn noch ein oder zwei Millionen Flüchtlinge hinzukommen?", fragt Mateusz Krauze. Der Pole arbeitet als Beamter für die Europäische Kommission in Brüssel, möchte seine Einschätzung gegenüber FORUM aber als privat verstanden wissen, und nicht als die der Kommission. „Es gibt eine große Solidarität in Polen", sagt er. Die Menschen organisierten sich auf spontanen Wegen, selbstständig und durch lokale Gemeinden unterstützt. „In den vergangenen Tagen sind Tausende an die Grenzen gefahren, um zu helfen."
Viele Flüchtlinge organisieren sich selbstständig
Einer von ihnen ist Łukasz Synowiecki. Er lebt in der Nähe der polnischen Stadt Przemyśl, die gut zehn Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt liegt. In der Grenzstadt sind die Temperaturen im Schnitt noch einige Grad kälter als in Berlin. Synowiecki und andere freiwillige Helfer kochen und verteilen Essen, machen heißen Tee und bieten Mitfahrgelegenheiten an. „Die Situation ändert sich schnell und ist recht chaotisch", erzählt der Aktivist. An den polnischen Bahnhöfen würden zwar Züge für die Kriegsgeflüchteten bereitgestellt, doch es gebe keine Fahrpläne. Zwar würden die Fahrtzeiten und -ziele durch die Lautsprecher durchgesagt, aber nur einmal und lediglich auf Polnisch, was die wenigsten Ukrainer verstehen. Eine von Synowieckis Aufgaben ist es dann, die Sprachbarrieren zu überwinden. Er selbst versteht ein paar Worte Ukrainisch und informiert die Schutzsuchenden in einem Kauderwelsch aus Russisch und Polnisch über die Abfahrtzeiten. Er erzählt, dass es jetzt eine „große Unterstützung" seitens der polnischen Regierung gebe und dass viele Ehrenamtliche, auch aus dem Ausland, an die polnisch-ukrainische Grenze kämen, um zu helfen.
Von großer Solidarität mit den Geflüchteten, „in den Städten, aber auch in kleinen Dörfern, überall", spricht auch Magdalena Krysińska-Kałużna aus Konin, einer Stadt in Zentralpolen. Die Ethnologin setzt sich als Mitglied der Gruppe Akademia Demokracji und Vorsitzende der „Akcja Konin Association" für mehr Bürgerbeteiligung in Konin ein. Kürzlich hat sie sich mit einer fünfköpfigen Flüchtlingsfamilie aus Kiew getroffen. „Es geht ihnen besser, als ich befürchtet habe, zumindest sah es so aus. Ich weiß ja nicht, wie es drinnen in ihnen aussieht", sagt sie über die junge Mutter, die mit einem Kleinkind, einem Schulkind und ihren Eltern über die polnische Grenze geflohen ist. Der Vater der Kinder musste in der Ukraine bleiben. Die Fünf, so erzählt die Völkerkundlerin, seien mit dem eigenen Auto gekommen. Sie haben zehn Stunden lang im Stau und drei Tage lang an der Grenze gestanden. Dennoch haben sie schlafen können und fühlten sich jetzt sicher in Polen. Mehr Sorgen macht sich die Aktivistin über diejenigen, die sich erst später auf die Flucht begeben. Sie befänden sich in einer schlechteren Lage, da es „von Tag zu Tag schlimmer" werde. „Einige von ihnen sind Menschen mit weniger Ressourcen, weniger Geld und vielleicht krank. Sicherlich sind auch die späteren Kriegsflüchtlinge stärker traumatisiert."
Weil zu erwarten ist, dass der Krieg noch länger andauert und die Ukrainer Polen nicht so schnell wieder verlassen, ist man seitens der Regierung dabei, den geflüchteten Menschen aus dem Nachbarland unter die Arme zu greifen. „Wir warten derzeit noch darauf, dass die Ukrainer mit den Polen gesetzlich auf eine Stufe gestellt werden", sagt Mateusz Krauze. Zurzeit werde ein Gesetz im Parlament verabschiedet, das ihnen ermöglicht, Kindergeld und eine Krankenversicherung zu erhalten.
Drei Wochen nach Kriegsbeginn ist die Hilfsbereitschaft in Polen weiterhin groß. Dabei schien aus deutscher Sicht eine solche Willkommenskultur im Land zwischen Oder und Newa bis vor Kurzem gar nicht zu existieren. Noch 2014, „als Flüchtlinge aus dem Nahen Osten Unterstützung brauchten, war die Bereitschaft der polnischen Bevölkerung, Flüchtlingen aus Kriegsgebieten zu helfen, groß", erinnert sich Magdalena Krysińska-Kałużna. Die Ethnologin verweist auf Umfragen, die das bestätigen. „Die Ergebnisse einer Umfrage des UNHCR aus dem Jahr 2014 zeigen, dass die Akzeptanz der Flüchtlinge sogar 85 Prozent überstieg", sagt sie.
Regierungspartei PiS hat Ängste geschürt
Der große Sinneswandel soll zwei Jahre später gekommen sein, als laut Umfragen nur noch 39 Prozent der Menschen bereit gewesen waren, Geflüchtete aufzunehmen. „Der Grund für diese Veränderung war die Regierungspartei PiS, die Mithilfe der Medien Angst vor den Flüchtlingen schürte", erläutert sie. Es sei das Bild vermittelt worden, die Flüchtlinge seien ‚Terroristen‘ und gewalttätig. Diese Einstellung bezog sich bis vor Kurzem vor allem auf diejenigen Menschen, die versuchten, über Weißrussland nach Polen zu flüchten. „Es gab den Mythos, dass die Geflüchteten von Lukaschenko eingesetzt wurden, um Polen zu destabilisieren", erläutert EU-Beamter Krauze. „Es hieß, dass Flüchtlinge aus Belarus keine Kriegsflüchtlinge sind."
Seit Kriegsbeginn hat sich der Regierungskurs um 180 Grad gedreht. Für Łukasz Synowiecki stellt sich die Situation als unübersichtlicher dar: „An dem einen Grenzübergang ist die Flucht problemlos möglich und wenige Kilometer weiter schwierig", sagt er. „Mit dem Beginn des Krieges hat die polnische Regierung ihre Haltung gegenüber Flüchtlingen grundsätzlich geändert – aber nur gegenüber Flüchtlingen aus der Ukraine", meint Magdalena Krysińska-Kałużna. Sie berichtet davon, dass Aktivisten nahe der weißrussischen Grenze Nicht-Weiße Flüchtlinge mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgen. „Es gab Situationen, in denen schwangere Frauen im Wald entbunden haben. Manchmal irrten die Menschen wochenlang durch die Wälder. Es war kalt, und sie tranken Wasser aus Pfützen", erzählt sie. Ehrenamtliche Helfer hätten nach ihnen gesucht, „manchmal stundenlang" und sie dann in Krankenhäuser gebracht. „Aber die polnische Regierung wollte sie nicht haben, und die Grenzwächter brachten sie direkt aus den Spitälern zurück an die Grenze."
Auch Aktivist Synowiecki weiß von Geflüchteten, die sich seit Monaten in den Wäldern zwischen Belarus und Polen versteckt halten. Viele kämen aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan, andere aus Ghana und anderen Ländern Afrikas. Unter den Geflüchteten aus der Ukraine haben „Ausländer die schwierigste Situation", sagt er. Dazu zählen auch Austauschstudenten aus afrikanischen oder asiatischen Ländern. Es käme immer wieder vor, dass Menschen anderer Hautfarbe länger an den Grenzen warten müssten als andere, so Synowiecki. Auch der französische Fernsehsender France 24 berichtete vor Kurzem von Studenten aus Afrika, die an der Grenze zu Polen abgewiesen worden sind. „Sie sagten uns, dass Schwarze nicht erlaubt seien. Aber wir konnten sehen, wie Weiße durchgingen", zitierte der Sender einen Studenten aus Guinea. Es scheint, dass die 2015 begonnene Flüchtlingskrise Polen und ganz Europa noch länger in Atem halten wird.