Die sieben deutschen Industriekultur-Welterbestätten initiierten die Gründung einer Bundesstiftung. Im abschließenden Teil der Serie stellen wir weitere dieser spannenden Orte vor. Teil 2
Als identitätsstiftende Orte der Vergangenheit für die Gegenwart geben die „Labore der Zukunft" gesellschaftlichen Fragestellungen Raum: Die sieben industriellen Unesco-Welterbestätten wollen sich den wichtigen Themen der Zeit stellen, zum Beispiel dem Umgang mit Ressourcen.
Damit beschäftigt man sich in Augsburg bereits seit mehr als 800 Jahren. Das dortige Wassermanagement-System gilt als einzigartiges Beispiel für die Entwicklung einer kommunalen Wasserwirtschaft. 22 Objekte, darunter Fließwasserkanäle, das älteste Wasserwerk und der älteste Wasserturm Deutschlands, das älteste Wasserwerk, welches über grundwassergespeiste Tiefbrunnen versorgt wurde, sowie zehn historische Wasserkraftwerke stehen seit 2019 auf der Welterbeliste der Unesco.
Sie veranschaulichen „die Nutzung der natürlichen Ressourcen seit der Antike, die Entwicklung der dazu nötigen Technik und – als besonderes Charakteristikum – die Interpretation der Einheit von Natur und Technik durch die Kunst", erklärt Dr. Christoph Bellot vom Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege. Das Kanalnetz mit Wasser aus den nahe gelegenen Flüssen besteht seinen Angaben zufolge seit dem Frühmittelalter und wurde bis ins 20. Jahrhundert immer weiter ausgebaut. Im Hochmittelalter entstanden die ersten hydrotechnischen Bauten. Die Kanäle trieben Mühlen und andere Mechanik an, ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden an ihnen auch Kraftwerke zur Stromerzeugung angelegt. Bis heute wird das Bild der Augsburger Altstadt von dem fast 190 Kilometer langen Kanal-Geflecht und den Wassertürmen entscheidend mitgeprägt. Weltberühmt sind die drei Pracht-Brunnen aus der späten Renaissance in der Maximilianstraße: Sie gelten als Hauptwerke der europäischen Kunstgeschichte.
Ein beeindruckendes Zusammenspiel von Innovationsgeist und technischer Meisterleistung ist der Industriekomplex Zeche Zollverein in Essen. Zwei der Schachtanlagen der einst größten und leistungsstärksten Steinkohlenzeche der Welt sowie die benachbarte Kokerei, in ihren Hochzeiten die größte Zentralkokerei Europas, erhielten 2001 den Welterbe-Status. Es handle sich um ein bemerkenswertes Industriedenkmal, „weil seine Gebäude herausragende Beispiele für die Anwendung der Gestaltungskonzepte der Bauhaus-Architektur in einem industriellen Gesamtzusammenhang sind", hieß es dazu in der Begründung. Zudem dokumentierten die technischen und sonstigen Strukturen „eine entscheidende Phase der traditionellen Schwerindustrie Europas, in der architektonische Konzepte von außergewöhnlicher Qualität einfühlsam und sicher eingesetzt wurden".
Industriedesign und Architektur
Wie ein Gesamtkunstwerk präsentiert sich die bis in die Details der Lampen, Treppengeländer und Türgriffe durchgestaltete, komplett erhaltene Anlage, die die soziale, ökonomische, ästhetische und industrielle Geschichte des Kohle- und Stahlzeitalters repräsentiert. Ins Auge fällt die symmetrische Anordnung der Gebäude auf zwei Blickachsen: Die 20 Einzelgebäude bilden die technischen Arbeits- und Produktionsabläufe der Kohleförderung ab, und zwar nach der Bauhaus-Maxime, dass sich die Form an der Funktion orientieren soll („form follows function").
Die Verbindung von Industriedesign und Architektur beeinflusste die Industriearchitektur nachfolgender Generationen und brachte dem Zollverein schon zu Betriebszeiten den Ruf als „schönste Zeche der Welt" ein. Heute kümmert sich eine Stiftung darum, dass die Gebäude und Anlagen auf dem 100 Hektar großen Gelände erhalten, betrieben und zu einem Zukunftsstandort entwickelt werden.
Nicht nur sehr viel größer, sondern zudem grenzüberschreitend ist die Welterbestätte „Montanregion Erzgebirge/Krušnohoří". Sie besteht aus 22 Teilgebieten, 17 davon im deutschen Bundesland Sachsen sowie fünf in Tschechien, in den Bezirken Karlovy Vary und Ústí nad Labem. „Ein herausragendes Zentrum wissenschaftlich-technologischer Bergbauinnovation und einzigartige montane Kulturlandschaft", lautet dazu die Beschreibung der Unesco. Denn im Erzgebirge wurden wegweisende Organisationsformen und Technologien entwickelt, die die Wirtschaft, staatliche Systeme und gesamtgesellschaftliche Umbrüche in Europa und auch weltweit entscheidend prägten. Das Wissen und Können der Bergleute, Handwerker und Kaufleute beeinflusste spätere Entwicklungen in anderen Bergbauregionen maßgeblich.
Zu den zahlreichen Errungenschaften der Region gehört die Gründung der ältesten noch bestehenden Bergakademie im Jahr 1765. Hier forschten namhafte Wissenschaftler, unter anderem der Naturforscher Alexander von Humboldt. Die Welterbestätte umfasst unter anderem Wasserwirtschaftssysteme, Straßen, Schienen, Kanäle sowie Erzverarbeitungs- und Verhüttungsstandorte – eine Vielzahl an Zeugnissen des Abbaus und der Verarbeitung von metallischen und nichtmetallischen Rohstoffen vom späten Mittelalter bis in die Neuzeit, die die Entwicklung der Region maßgeblich beeinflusst hat. Auf deutscher Seite liegen die Schwerpunkte auf historischen Bergbaugebieten und dem Uranerzbergbau, in Tschechien repräsentieren Landschaftsgebiete die bedeutenden Erzreviere und die jeweils zugehörigen Bergstädte. Wer die Welterbestätte „Montanregion Erzgebirge/Krušnohoří" ausgiebig erkunden möchte, sollte sich mehrere Wochen Zeit dafür nehmen.
Das Weltkulturerbe Völklinger Hütte ist hingegen perfekt für einen Tagesausflug geeignet. Das ehemalige Eisenwerk in Völklingen erzählt vom Zeitalter der Hochindustrialisierung und damit auch von der Geschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert. Die Unesco zeigt sich vom „letzten erhaltenen Hochofenkomplex, der die Roheisenproduktion in einer beeindruckenden Authentizität und Vollständigkeit abbildet" begeistert. Er umfasst Anlagen für alle Stadien der Roheisenproduktion, von der Handhabung der Rohmaterialien und der Einrichtungen zur Kohle- und Eisenerzaufbereitung bis zur Eisenproduktion in den Hochöfen.
„Beeindruckende Authentizität"
In ihrer Blütezeit, als 20.000 Stahlkocher lothringisches und schwedisches Erz mithilfe saarländischer Kohle in Eisen umwandelten, war die 1873 gegründete Hütte eine der modernsten Industrieanlagen in Europa. Viele technische Neuerungen wurden hier entwickelt oder erstmals industriell verwendet. Manches davon ist bis heute weltweit im Einsatz. Nach der Stilllegung 1986 scheiterte die geplante Verschrottung an den Kosten – ein Glücksfall, denn durch die Erhebung zum Unesco-Weltkulturerbe entwickelte sich der Ort zum Anziehungspunkt für Menschen aus aller Welt.
Besucher staunen nicht nur über die technischen Anlagen und die Leistungen, die die Arbeiter alltäglich erbracht haben, sondern erleben auch Kultur, unter anderem Ausstellungen, Festivals und Konzerte. Selbst die Kraft der Natur zeigt sich: Im „Paradies", dem Areal der Kokerei, wo früher Hitze, Staub und Feuer herrschten, haben sich Fauna und Flora ihr Terrain zurückerobert.
Die Völklinger Hütte war 1994 das erste Denkmal aus der Blütezeit der Industrialisierung, das in die Welterbeliste der Unesco aufgenommen wurde. Zu Kathedralen, Altstädten und Schlössern gesellen sich seither Orte der Industrie und Arbeit. Einzigartige Monumente, die nicht nur von der Vergangenheit erzählen, sondern auch dazu geeignet scheinen, die
Gegenwart und Zukunft in den Blick zu nehmen.
