Noch nie hatten so viele Menschen freien Zugang zu so vielen Informationen. Andererseits werden im Netz auch Fake News verbreitet. Viele fühlen sich von der Informationsflut überfordert. Doch es gibt Wege aus der digitalen Kakofonie.
Das Informationsparadies wächst uns über den Kopf. Eine unüberschaubare Menge an Informationen könne sich negativ auf die Gesundheit auswirken, befindet die Weltgesundheitsorganisation WHO. Die Informationsflut verstärke Stress und Sorgen. Und sie bringe Menschen womöglich dazu, gefährlichen Ratschlägen zu folgen. Im Iran sind 2020 mehr als 700 Menschen gestorben, weil sie nach Falschinformationen Methanol zum Schutz vor Corona eingenommen haben. Einen Namen hat die neue Seuche auch schon: Infodemie. Diese lässt die WHO seit Sommer 2020 erforschen und bekämpfen. Ein Ziel: Die Menschen sollen lernen, „gute von schlechten Quellen zu unterscheiden". Auch sucht die WHO nach Wegen, „Missverständnisse durch kulturelle Verschiedenheiten" zu unterbinden.
Eine Studie der Universität Bielefeld bescheinigte den Menschen in Deutschland dazu Anfang 2021 eine mehrheitlich geringe Gesundheitskompetenz. Im „Zweiten Health Literacy Survey Germany" interviewten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler 2.000 repräsentativ ausgewählte Personen über 18 Jahren. Ergebnis: 2020 fiel es den meisten noch schwerer als 2014, „die Vertrauenswürdigkeit von Gesundheitsinformationen in den Medien einzuschätzen und Konsequenzen für das eigene Verhalten daraus abzuleiten". Noch schlechter kommen die Menschen mit digitalen Informationen zurecht. Drei von vier Befragten verstanden diese nicht oder nicht richtig.
2016 befragte die PR-Agentur Hill and Knowlton 1.600 Führungskräfte zu ihrem Informationsverhalten. Zwei von drei Befragten gaben an, sie fühlten sich von der Fülle an Informationen im Job überfordert. Zu ähnlichen Ergebnissen kam 2020 eine Umfrage der PR-Agentur „Frau Wenk" unter 55 „Entscheidern in der Digitalwirtschaft". Gut jeder Vierte klagte über „zu wenig Zeit, um sich vertieft mit einem Thema zu beschäftigten". Nur 36 Prozent fühlten sich über aktuelle Entwicklungen gut informiert. Als wichtigste Informationsquelle nannten die Befragten Newsletter, Fachmagazine, das Karriereportal LinkedIn, Events, Vorträge und persönliche Gespräche.
Machtlos sind wir gegen die Informationsflut nicht. Die Sozialpsychologin und Diplom-Pädagogin Sabine Wesely berät an der Hochschule Hannover Studierende unter anderem zu Selbst- und Zeitmanagement. Außerdem forscht sie zu Psychologie in Arbeitsprozessen. Sie rät zu gezielter Recherche: Man stelle sich vor der Recherche eine klare Frage. Alles, was nicht direkt diese Frage beantworte, könne man ignorieren.
Der Bildungs- und Hirnforscher Gerald Hüther hat seinem vorletzten Buch folgenden Titel gegeben: „Lieblosigkeit macht krank. – Was unsere Selbstheilungskräfte stärkt." In der Informationsflut empfiehlt er uns einen wertschätzenden Umgang mit uns selbst. „Menschen, die sich selber mögen, die in sich ruhen, die sind dann auch liebevoller zu anderen." Entspannt und gelassen erkenne der Mensch besser, „was wirklich wichtig ist."
Ökonomie der Aufmerksamkeit
In seinen Vorträgen bittet Hüther seine Zuhörer, ihre inneren Stimmen ernst zu nehmen. Er nennt zwei Grundbedürfnisse: das nach Verbundenheit sowie das nach Autonomie und eigenen Gestaltungsmöglichkeiten. Wer diese nicht selbst stillen könne, brauche „Macht, Einfluss, Anerkennung" und laufe deshalb Gefahr, im Informationsstrudel unterzugehen.
Eine ganze Industrie hat aus dem Bedürfnis der Menschen nach Kontakt, Einfluss und Selbstwirksamkeit ein Geschäftsmodell entwickelt. Die Aufmerksamkeitsökonomie. Es entstehen Phänomene wie Clickbaiting im Internet. Ich schreibe und poste, was Klicks bringt. Ob es wahr oder für die Empfänger von Bedeutung ist, spielt keine Rolle, Lügengeschichten oder Fake News inklusive.
Um überhaupt noch durchzudringen, müssen die Sender einer Botschaft immer dicker auftragen. Die potenziellen Empfängerinnen und Empfänger stumpfen ab. Der Sender trommelt dann noch lauter. Ein Teufelskreis. Deshalb rät auch Gerald Hüther allen, vor einer Recherche ein Ziel festzulegen und mit einem scharfen Filter nach Informationen zu suchen.
Dazu braucht es eine klare Haltung, also Werte: „Eine Person, die mit sich selbst gut verbunden ist, kann Informationen besser ‚auf ihre Bedeutung hin prüfen."
Diese Fähigkeit erreichten Menschen vor allem durch Bildung. Doch Wissen allein reicht nicht, um durch die immer unübersichtlichere Welt zu navigieren. Studien belegen, dass Information allein die Menschen nicht dazu bewegt, sich entsprechend der Erkenntnisse zu verhalten. Die Klimakrise und die drohenden Folgen zum Beispiel sind seit den 70er- Jahren bekannt. Die meisten wissen, wie man die Erderhitzung bremsen könnte. Doch sie machen weiter wie bisher. „Es ist experimentell gezeigt worden, dass Menschen in der Lage sind, im Verlauf der Zeit richtige und wichtige Informationen wieder zu verdrängen und zu ihrer ursprünglichen Meinung zurückzukehren", schreibt beispielsweise der Verhaltensökonom Florian Zimmermann in der „Zeit". Dies gilt umso mehr, wenn Verhaltensänderungen zunächst unbequem erscheinen und negative Konsequenzen des eigenen Tuns scheinbar noch in weiter Ferne liegen.
Auch wenn ich weiß, dass Fliegen Umwelt und Klima schadet, buche ich den Flug – zum Beispiel, weil er billiger ist und bequemer. Nicht zu unterschätzen ist auch der Einfluss des sozialen Umfelds auf das eigene Verhalten. Wenn der Nachbar ein dickes Auto fährt und ein großes Haus hat, darf ich das doch auch, oder? Wissen und Informationen haben also einen geringen Einfluss auf unser Verhalten. Selbst die Bereitschaft, das eigene Verhalten zu ändern, beeinflusst dieses einer Studie zufolge nur zu 25 Prozent – wie der Klimapsychologe Gerhard Reese in einem Vortrag im Oktober 2020 berichtete.
Gerald Hüther fordert auch deshalb nicht weniger als eine zweite Aufklärung. Es geht also um die Vermittlung von Werten und Haltung. Ein Beispiel: Sigrid Stegemann organisiert in der gemeinnützigen „Bildungsstätte Einschlingen" in Bielefeld Seminare für angehende Pflegekräfte. In den Workshops bearbeiten die Teilnehmenden schwierige Themen wie „Umgang mit Sterben und Schwerkranken und deren Angehörigen". Am besten bewältigten Menschen solche belastenden Erfahrungen, wenn sie „dabei auch ganz stark auf die eigenen Gefühle achten und authentisch bleiben". Die angehenden Pflegekräfte begegneten in den Seminaren „ihren eigenen Verlusterfahrungen. Das berührt ja schon mal erst ganz stark."
Je katastrophaler, desto mehr Klicks
Bei der Recherche hilft Medienkompetenz. Welche Quelle ist seriös? Worauf kann ich mich verlassen und welche Interessen stecken hinter welcher Veröffentlichung? Die Mechanismen der Medien und der Aufmerksamkeitsökonomie spielen schlechte Nachrichten nach vorne. Der Grund: Unser Gehirn ist von der Evolution auf die Wahrnehmung von Gefahren programmiert. Wenn zum Beispiel durch ein Naturereignis oder einen Angriff unser Leben bedroht ist, stellt das Gehirn alle anderen Überlegungen oder Reaktionen zurück. Der Körper schüttet Adrenalin aus. Volle Aufmerksamkeit. Der Mensch reagiert auf eine tatsächliche oder vermeintliche Bedrohung vollautomatisch als Erstes. Dieses Muster nutzen die Medienmacherinnen und Medienmacher für ihre Schlagzeilen. Je katastrophaler die Meldung, desto häufiger wird sie angeklickt und gelesen. Negativitätsbias nennt die Hirnforscherin Prof. Dr. Maren Urner diesen Effekt.
Die vielen dramatisierenden Nachrichten setzen uns unter Dauer-Stress. Das Gefühl, in einer immer schlechteren Welt zu leben und dagegen nichts ausrichten zu können, belaste viele Menschen so sehr, dass sie psychische Krankheiten entwickeln. Die Psychologie nenne diesen lähmenden, auf Dauer belastenden Zustand „erlernte Hilflosigkeit". Die Menschen resignieren.
Wandeln kann dies nur jeder und jede Einzelne für sich. Neurowissenschaftlerin Maren Urner empfiehlt den Menschen eine „gesunde Medienhygiene". Nachrichten solle man nur bewusst und wohldosiert aus unterschiedlichen, verlässlichen Quellen konsumieren. Wichtig sei es, mit anderen Menschen über die Eindrücke zu sprechen. Handy, ständige Benachrichtigungen und das Mailprogramm könne man ausschalten, um mal in Ruhe einen längeren Artikel zu lesen.
Je mehr die Algorithmen der sogenannten sozialen Medien ihre Nutzerinnen und Nutzer in Filterblasen einschließen, desto schwieriger wird der Ausstieg aus der Negativ-Spirale. Twitter, Facebook und andere Plattformen spielen nach vorne, was häufig angeklickt wird. Wer das Geld hat für aufwendige Social-Media-Kampagnen und Public Relations, ist präsenter, wird mehr gehört und gesehen. Maren Urner sieht Auswege aus diesem Teufelskreis aus Einengung und Negativität. Sie empfiehlt, den Blick auf Lösungen zu richten: „Wie wir auf die Welt schauen, beeinflusst, wie wir die Welt wahrnehmen und beeinflusst dann, wie wir in ihr handeln."
2016 hat die Neurowissenschaftlerin deshalb mit weiteren Journalistinnen und Journalisten das Internet-Portal „Perspective Daily" gegründet. Die Geschichten dort prangern Missstände an, liefern aber auch Lösungsvorschläge. „Konstruktiver Journalismus" nennt sich das Konzept. Das Problem: Differenzierte Hintergrundgeschichten werden deutlich seltener angeklickt als schrille Sensationsmeldungen. Deshalb ist es schwer, damit Geld zu verdienen. Einen Ausweg sieht Urner in einem gemeinnützigen, unabhängigen und werbefreien journalistischen Angebot, für das die Nutzerinnen und Nutzer bezahlen. Als Beispiel für nutzerfinanzierte Medien nennt sie Streaminganbieter wie Netflix oder Spotify. Auch die verkauften ihr Angebot erfolgreich an zahlende Abonnentinnen und Abonnenten.
Wer sicher durch die Informationsflut kommen will, braucht einen guten Kompass. Und der richtet sich vor allem nach den eigenen Werten, einer stabilen inneren Haltung, einem klaren Informationsziel, Offenheit für Neues und einem gesunden, gewachsenen Selbstvertrauen, das erkennen kann, was wirklich wichtig ist.