Die Bundesregierung muss derzeit Beschlüsse fassen, die noch vor wenigen Wochen niemand für möglich gehalten hätte. Nach dem Ausbruch des Ukraine-Krieges liegt der dritte Schuldenhaushalt in noch nie dagewesener Höhe vor.
Nun hat es auch die FDP eiskalt erwischt, nachdem sich bereits SPD und Grüne von zuvor ehernen Grundsätzen verabschieden mussten. Ausgerechnet der liberale Finanzminister muss Schulden in noch nie erreichter Höhe im aktuellen Bundeshaushalt verantworten.
Dass die Bundesregierung dieses ungebremste Schuldenwachstum nicht stoppen kann, ist aber nicht Schuld von Christian Lindner, dem Verfechter der Schuldenbremse. Im Gegenteil, Lindner war noch im Januar gegenüber FORUM hoffnungsfroh, nach der Pandemie in seinem ersten selbstverantworteten Haushalt tatsächlich zumindest eine „graue Null" hinzuzirkeln. Also wesentlich weniger neue Schulden als ursprünglich geplant. Um dann im kommenden Jahr, so glaubte er, wieder die „schwarze Null" zu schaffen, so wie sein Vorgänger, der jetzige Kanzler Olaf Scholz, es vor der Pandemie auch geschafft hatte. Doch im Sommer vor zwei Jahren musste Scholz die „Bazooka" rausholen, wie er es seinerzeit als Bundesfinanzminister ungewohnt martialisch ausdrückte. Allein im ersten Pandemiejahr waren es 220 Milliarden neue Schulden. Im letzten Jahr dann „nur" 215 Milliarden, ursprünglich hatte Scholz mit 25 Milliarden mehr gerechnet, doch die Konjunktur sprang nach dem zweiten Lockdown zügig an. Daraus speiste sich die große Hoffnung Lindners, Anfang des Jahres, bald wieder einen „ordentlichen Haushalt" aufzustellen.
Ministerium im Teufelskreis
Spätestens seit dem 24. Februar ist die Hoffnung nicht nur für dieses Jahr obsolet, und das gilt vermutlich für die gesamte reguläre Amtszeit des FDP-Finanzministers. Welche Kosten der Ukraine-Krieg Deutschland noch bescheren wird, kann derzeit niemand überblicken. Finanzminister Lindner konnte deswegen am 22. März dem Bundestag auch nur einen vorläufigen Haushalt präsentieren. Ausgerechnet die „ordnende Kraft", wie sich Lindner ja gern selbst bezeichnet, musste das Hohe Haus mit einem vollständigen Haushalt vermutlich auf die erste Woche im Juli vertrösten. Nun gilt auch für ihn: willkommen im Regierungsalltag. Warum soll es der FDP auch besser ergehen als SPD und Grünen? Ob allerdings eine solide Finanzplanung in gut einem Vierteljahr möglich ist, bezweifeln nicht nur Experten. Abgesehen von den direkten Auswirkungen des Krieges sind es die Folgen gerade im Energiesektor, die eine Planung beinahe unmöglich machen.
Das erste Entlastungspaket für die Bürger, unter anderem auch die Aussetzung der EEG-Umlage ab Juli, war kaum wirksam, da musste schon Ende März das zweite folgen. Den Verbrauchern soll so angesichts der horrenden Diesel-, Heizöl-, Sprit- und Gaspreise geholfen werden. Das Deutsche Institut für Wirtschaft (DIW) beziffert die Kosten für den dreimonatigen Diesel- und Spritsteuernachlass, die bundesweite Neun-Euro-Monatskarte im ÖPNV und die einmalige Energiepreispauschale von 300 Euro für Arbeitnehmer auf 15 Milliarden Euro. Laut den Berechnungen könnte Bundesfinanzminister Lindner die Summe allerdings in seinem vorläufigen Bundeshaushalt noch verkraften, denn durch die extrem hohen Preise auf die fossilen Energieträger sprudelt auch beim Finanzminister die Steuerkasse. Auf die hohen Einkaufspreise von Diesel, Sprit, Heizöl und Gas kommt ja dann noch die Mehrwertsteuer und Energiesteuer. Höherer Grundpreis heißt auch immer automatisch höhere Steuereinahmen. Also die dreimonatige Vorteilsgewährung an der Tankstelle und die ÖPNV-Monatskarte zum Discountpreis könnten so für die staatlichen Kassenwarte im Bundesfinanzministerium zum Nullsummenspiel werden. Doch der bange Blick geht in die Zukunft.
Nicht nur der Ukraine-Krieg, sondern auch Lieferengpässe legen bereits seit Wochen die Produktion in Teilen der Automobilindustrie lahm. Auch im verarbeitenden Gewerbe der anderen Industrien gibt es erhebliche Verwerfungen, Lieferengpässe gepaart mit stark gestiegenen Rohstoffbeschaffungspreisen und dazu hohe Energiekosten werden spätestens im Frühsommer auch auf den Arbeitsmarkt durchschlagen, so die Interessenverbände der Industrie. Im günstigsten Fall per Kurzarbeit. Das kostet zusätzlich Geld, also wird sich in absehbarer Zeit auch Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) beim Finanzminister mit Nachforderungen melden.
Heil verfügt mit 160 Milliarden Euro über den höchsten Einzeletat des Bundeshaushalts. Doch dieser wird nicht reichen, wenn die Arbeitslosigkeit steigt. Dazu kommen dann die Steuerausfälle, die wiederum dem Finanzminister in seiner Budgetierung fehlen. Ein Teufelskreis, von dem Lindners Vor-Vor-Vorgänger Hans Eichel (SPD) Anfang des neuen Jahrtausends nur zu gut zu berichten weiß. Doch die drohende ausfallende Produktion ist nur die eine, schwer abzuschätzende Baustelle in der Finanzplanung. Dazu kommen dann noch die unkalkulierbaren Kosten für die aufzubauende nationale Gasreserve. Erdgas für einen Winter soll bis Oktober bevorratet werden, damit Deutschland im kommenden Winter nicht im Kalten sitzt und vor allem die industrielle Produktion bei einem Ausfall der russischen Lieferungen nicht zum Erliegen kommt. Doch so eine gigantische Gas-Bevorratung kostet viel Geld, gerade bei den derzeitigen Weltmarktpreisen. Dazu kommt: Deutschlands größter Gasspeicher unter der niedersächsischen Heide gehört Gazprom. Sollten die Russen sich quer stellen, muss noch ganz schnell ein neuer Gasspeicher gefunden werden – auch das kostet Geld.
Unkalkulierbare Kosten für Gas
In Sinne der Versorgungssicherheit tourt Bundeswirtschaftsminister Habeck (Grüne) seit Wochen durch die Welt und kauft Liquified Natural Gas (LNG) in bislang ungekannten Dimensionen auf. Welche Preise da in Norwegen, Katar oder den Emiraten pro Tonne ausgehandelt wurden, ist nicht bekannt, die Rechnung dazu kommt ohnehin erst in einiger Zeit.
Doch das LNG muss in Deutschland auch landen und ins Netz gespeichert werden können. Deutschland besitzt aber nicht einen einzigen Terminal dafür. Darum werden nun in Windeseile zwei Flüssiggas-Terminals in Wilhelmshaven am Jadebusen und in Brunsbüttel in der Lüneburger Heide aus dem Boden gestampft. Das sind weitere unvorhergesehene Kosten – und auch hier ist die Höhe unbekannt und somit für Finanzminister Lindner nicht kalkulierbar.
Im Bundesfinanzministerium verweist man dazu auf den aufgelegten 200-Milliarden-Klimafonds bis 2026. Doch auch das sind weitere Schulden, die irgendwie mal zurückbezahlt und vor allem im Bundeshaushalt auch verbucht werden müssen. Rechnet man nur die aktiven Schuldenposten für den Haushalt dieses Jahres zusammen, entsteht eine schwindelerregende Neuverschuldung.
Bislang stehen knapp 100 Milliarden reguläre Neuverschuldung im Bundeshaushalt in den Büchern. Dazu kommen die Kosten durch den Ukraine-Krieg, vor allem für die Unterbringung der Flüchtlinge, aber auch für die Lieferung von zivilen Hilfsgütern und die bisherige Waffenhilfe. Auch wenn diese zum guten Teil aus Altbeständen der Bundeswehr stammt, muss sie abgerechnet werden. Dann kommen Kosten, beziehungsweise Steuerausfälle durch die beiden Energie-Entlastungspakete.
Experten im Bundesfinanzministerium, aber auch unabhängige Institute kommen in ersten Überschlagsrechnungen damit auf eine tatsächliche Neuverschuldung im Bundeshaushalt 2022 von 250 Milliarden Euro – Rekord. Nicht berücksichtigt in dieser Summe ist das Sondervermögen Bundeswehr von 100 Milliarden und der Klimafonds von 200 Milliarden Euro. Wie diese Schulden zurückgezahlt werden sollen, kann derzeit niemand sagen. Die Arbeitnehmer, die jetzt älter als 30 Jahre sind, werden es mit ihren Steuern nicht mehr schaffen. Das müssen dann zukünftige Generationen besorgen, soviel ist sicher.