Vom 22. Mai bis zum 19. Juni finden die Musikfestspiele Saar statt. Das farbstarke Plakatmotiv leuchtet weithin sichtbar und kündet von einem außergewöhnlichen und vielfältigen Programm. Festivalleiter Bernhard Leonardy gibt einen Ausblick.
Herr Leonardy, zum Leitgedanken Ihres Programms haben Sie „Orientations/Orientierungen" ausgerufen. Wie, glauben Sie, kann Musik Orientierung geben?
Ich glaube, dass die Sprache der Musik Menschen – und auch Völker – zusammenbringen, und daher auch Orientierung in einer orientierungslosen Zeit geben kann. Das ist ein frommer Wunsch, aber ich glaube, dass wir als Künstler Wichtiges zu all den politischen und humanitären Entscheidungen hinzugeben können – eine Orientierung, wie man in der Zukunft miteinander leben kann.
Gerhard Richter hat Glasfenster für die Benediktinerabtei St. Mauritius Tholey entworfen. Aus einem Motivausschnitt wurde das Plakat kreiert. War der Künstler von dieser Idee sogleich angetan oder musste er überzeugt werden?
An den Fenstern lassen sich durchaus islamische und christliche Motive und auch Symbole erkennen. Ich hatte per Mail bei Gerhard Richter angefragt, ob es möglich ist, das Thema „Orient und Okzident" mit einem seiner Motive auf dem Plakat zu begleiten. Dem wurde entsprochen. Überreden musste ich ihn also nicht, es war sehr unkompliziert.
Sie spannen einen musikalischen Bogen zwischen Orient und Okzident, dem Morgen- und dem Abendland, zwischen Islam und
Christentum. In welchem Ihrer 14 Programmpunkte spiegelt sich diese Idee in besonderer Weise wider?
In jedem! Der rote Faden zieht sich durch das gesamte Programm, sei es durch die Interpreten, sei es durch die Thematik. Am Greifbarsten ist vielleicht der „West-östliche Divan", aber auch das Friedenskonzert, bei dem wir das Brahms-Requiem aufführen.
Die Kammerphilharmonie St. Petersburg besteht zur Hälfte aus russischen und ukrainischen Musikern – wir wollen mithilfe der Musik die Völkerverständigung weiter offenhalten. Nicht zu vergessen die vielfältigen Kooperationen, also: Ich würde jedem raten diese drei Wochen freizunehmen um die Konzerte zu besuchen, dann kommt man weiter. (lacht)
Der türkische Pianist Fazıl Say und das Orchester Camerata Salzburg eröffnen die Musikfestspiele. Mozart und Werke von Fazıl Say stehen auf dem Programm. In welche Richtung tendiert sein Stil?
Fazıl Say ist momentan einer der großen Klassikstars. Er komponiert Klavierkonzerte in der Tradition von Mozart und Liszt. In seiner Musik spiegelt sich die Liebe zu seinem Heimatland Türkei wider. Eine musikalische Programmzusammenstellung wie ein Scharnier zwischen Orient und Okzident.
Der Violinist Daniel Hope hat sich von Goethes „West-östlicher Divan" inspirieren lassen und sich mit Musikern aus Ost und West zusammengetan. Was erwartet uns?
Ich bin ganz gespannt, was uns da erwartet, denn ich habe das Programm selbst vorab weder gehört noch gesehen. Daniel Hope ist als Künstler schon immer zwischen den Welten und Kulturen hin- und hergewandelt. Er wird aus Goethes „West-östlicher Divan" lesen, auch Violine spielen. Hinzu kommen Musiker mit ungewöhnlichem Instrumentarium, die den exotischen Gedanken des Programms weiterführen. Ich erwarte eine Zeitreise, eine Geschichte aus Tausendundeine Nacht. Das wird mit einer der Höhepunkte der diesjährigen Festivalausgabe und ist einer der Höhepunkte der vergangenen Jahre. Es ist ein großes Glück, diesen Weltstar bei uns zu haben.
„Das magische Game – eine Zauberflöte" nach der Mozart-Oper richtet sich an Kinder ab sechs. Das Singspiel „Die Entführung aus dem Serail", den Klassiker zu „Orient und Okzident", hatte die Taschenoper Lübeck wohl nicht im Repertoire …
(lacht) Die Taschenoper Lübeck gibt es noch gar nicht so lange. Durch das Programm Neustart Kultur haben sie jetzt in Lübeck ein eigenes kleines Theater. „Die Entführung aus dem Serail" wäre vielleicht ein bisschen prägnanter gewesen, aber bei der „Zauberflöte" finden sich ja durchaus Bezüge zu unserem Thema. Die Handlung ist ein bisschen vereinfacht, es werden auch Mitmachmöglichkeiten für Kinder geboten. Ich glaube: Nach der Vorstellung haben wir viele kleine neue Opernfans gewonnen. Ein junges Publikum, Familien mit Kindern, zu erreichen, ist auch ein großes Anliegen.
Die israelische Opernsängerin Chen Reiss singt Lieder in Ladinisch, einem Dialekt, der in Alpentälern Oberitaliens zu Hause ist. Sie spielt die Orgel in der Abtei zu Tholey. Was für außergewöhnliche Kombinationen …
Ich kenne Chen Reiss und habe sie schon an der Wiener Staatsoper erlebt. Ich bin hingerissen von ihrer unvergleichlichen Stimme. Die Idee mit den ladinischen Gesängen kam von ihr. Darüber hinaus werden auch Stücke von Fanny Mendelssohn zur Aufführung kommen – diese Stücke sind Klavierwerke und werden von mir für die Orgel transkribiert. Das Programm beginnt musikalisch im Barock und geht weiter bis in die Moderne. Vielleicht wird Arte das Konzert sogar übertragen. Es wird ein Programm, so bunt wie die dortigen Fenster.
Das Ensemble „Cembaless", ein Ensemble Alter Musik, ohne Cembalo, wie der Name sagt, und der Poetry Slammer Florian Wintels werden erwartet. Was wird das?
Eine Händel-Oper: „Il Floridante – oder eine heimliche Heldin"! Dieses Ensemble geht unglaublich avantgardistisch an Rezitative heran. Man begibt sich in die junge Welt von Fridays for Future und anderen Gruppierungen. Dieses Ensemble verbindet Alte Musik hier und Aktuelles dort. Ich bin auch fasziniert von der gepfefferten, manchmal deftigen Sprache, die dieser „alten Musik" eine ganz neue Power gibt. Das Publikum hat auch die Möglichkeit bei der „finalen Entscheidung" Einfluss zu nehmen. Das wird unglaublich fesselnd!
Der Estnische Philharmonische Kammerchor kommt. Stimmt es, dass man in den baltischen Staaten den Gesang besonders pflegt?
Das stimmt auf jeden Fall. In diesem Land singt wirklich jeder. Die Einladung an den Estnischen Philharmonischen Kammerchor, den bedeutendsten Chor des Landes, geht auf Arvo Pärt (estnischer Komponist, Anm. d. Red.), den ich besucht habe, zurück, denn wir haben uns natürlich auch über estnische Musik unterhalten. Estland ist ein musikalisch interessiertes Land, das lässt sich auch vom Saarland sagen. Ein Land, das europäisch denkt. Estland ist dem Saarland der Größe nach ähnlich und gut aufgestellt in der Informatik. Der estnische Botschafter Alar Streitmann hat seinen Besuch bereits zugesagt. Das Konzert soll ein Auftakt werden für eine lebendige estnisch-saarländische Kooperation.
Das von Ihnen gegründete Vokalensemble ’83 konzertiert mit der russischen Kammerphilharmonie St. Petersburg, es singt die in Russland geborene Sängerin Liudmila Lokaichuk. Manche Veranstalter sagen Konzerte mit russischen Künstlern – siehe Valery Gergiev und Anna Netrebko – ab. Wie finden Sie das?
Mir ist wichtig, den Gesprächsfaden zum russischen Volk aufrechtzuerhalten. Gerade deshalb ist es wichtig, dass wir ein Friedenskonzert gestalten, mit einer Sängerin deren Vater Ukrainer und deren Mutter Russin ist. Wir versuchen ganz bewusst Brücken zu bauen. Die russische Kammerphilharmonie St. Petersburg ist seit 20 Jahren in Deutschland und distanziert sich von dem dortigen Regime. Was Gergiev anbelangt, bin ich enttäuscht, aber auch entsetzt, dass er die Musik pseudopatriotisch missbraucht. Er dirigierte in Moskau „Bilder einer Ausstellung" und betitelte „Das Große Tor in Kiew" als „Das Heldentor in der alten Hauptstadt Kiew". Er zelebrierte das Stück in doppelt so langsamem Tempo und leitete den Schlagzeuger an, wie verrückt aufs Schlagzeug zu klopfen. Das ist ein Missbrauch der Macht der Musik, den ich schrecklich finde.
Zwei Konzerte finden an ungewöhnlichem Ort, in der Hermann-Neuberger-Sportschule, statt. Wie wird das möglich?
Der Sport ist viel weiter, als wir alle es sind. Die guten Fußballer spielen zusammen, egal wo sie herkommen, daher war dieser Schritt eigentlich sehr nah – auch um ein neues Publikum zu gewinnen. Auf dem Sportcampus Saar befinden sich zwei Hallen, eine davon mit fast neogotisch anmutender Hallen-Architektur mit interessanter Akustik, und die andere, in der wir das Brahms-Requiem aufführen, verfügt über steil ansteigende Publikums-Tribünen. Das Orchester sitzt, wie in einer Manege, unten in der Mitte. Die Anlage ist eine Holzkonstruktion – man sieht und hört sehr gut. Den Hochschulstandort kulturell einzubinden war schon immer ein Wunsch von mir.
Das Babylon Orchestra Berlin beschließt die diesjährigen Festspiele. Ein „Weltmusik"-Ensemble?
Dieses Ensemble bekommt einen Preis nach dem anderen. Auf jedem Festival, wo sie aufgetreten sind, hat das Publikum getanzt, war wie von Sinnen und völlig begeistert. Ein mitreißendes Ensemble – ein finales Feuerwerk für Herz und Sinne unserer diesjährigen Festivalausgabe!
Der Förderverein der Internationalen Musikfestspiele Saar gewann im vergangenen Jahr Mitglieder hinzu. Diese Entwicklung beflügelt Sie sicherlich. Was könnte Sie als Festivalleiter in diesem Jahr beflügeln?
Beflügeln könnte mich, wenn wir die Menschen ein Stück weit aus dieser paralysierten Situation herausbekommen. Musik, die Herzen berührt und zu den Seelen spricht gemeinsam zu erleben, ist ein Stück Freiheit. Das gibt positive Energie.