Zwischen gestern und heute liegen Welten
Der Ausbruch des Ukraine-Krieges hat das Weltbild einer rundum abgesicherten Wohlstandsgesellschaft in den Grundfesten erschüttert. Plötzlich kommt der Strom nicht mehr wie selbstverständlich aus der Steckdose. Plötzlich werden berechtigte Zweifel laut, ob denn künftig genügend Gas zum Heizen der Stuben und Benzin und Diesel zum Betanken der Autos für alle da ist. Denn an den Tankstellen steigen schon die Preise als Gradmesser der Knappheit in zuvor nie gekannte Höhen.
Die Spritpreise an den Zapfsäulen sind innerhalb weniger Wochen explodiert, von unter einem Euro am Tiefpunkt 2021 auf 2,24 bis 2,29 Euro am Höhepunkt. Für diejenigen, die nur den Euro kennen zur Kenntnis: Das sind fast fünf D-Mark! Und zur Erinnerung: In den frühen 70er-Jahren wurde es noch in der „Tagesschau" gemeldet, wenn der Benzinpreis um einen Pfennig gestiegen war. Und selbst in der größten Ölkrise stieg der Benzinpreis nie über eine Mark.
Nicht nur die Höhe der Spritpreise, sondern auch das hektische tägliche Auf und Ab an den Anzeigetafeln der Tankstellen bewegt Gemüt und Verstand – und bestimmt zunehmend die Zukunftsplanung des Einzelnen. Kann ich mir die Fahrt zur Arbeit mit dem Auto überhaupt noch leisten? Oder kann ich mir ein eigenes Auto überhaupt noch leisten? Und wäre Homeoffice eine sinnvolle Alternative?
Alles stellt der Krieg auf den Kopf, die gesellschaftlichen Prioritäten haben sich inzwischen zum Leidwesen vieler nachhaltig verschoben. Die Notwendigkeit einer möglichst umwelt- und klimafreundlichen Mobilität, die vor einem halben Jahr den Wahlkampf noch bestimmt hat, ist die Sorge von gestern. Heute ist Versorgungssicherheit als Gesellschaftsziel vorrangig geworden.
Was wiederum die alte Volksweisheit bestätigt, dass dem Menschen in der höchsten Not nicht nur „die Wurst auch ohne Brot" schmeckt, sondern auch „das Hemd näher ist als der Rock". Die Furcht vor einer Wiederholung der Folgen aus der ersten Ölkrise von 1973 steckt der Gesellschaft noch tief in den Knochen. Damals klang „Volltanken, bitte!" wie ein Hohn, damals gab es als Treibstoffersatz autofreie Sonntage. Bilder, auf denen Pferde Autokarossen hinter sich herziehen, zierten damals die Gazetten und sollten erheiternd wirken. Auch solche von Bürgern, die über die Autobahnen spazieren gingen oder dort Radtouren machten, gingen um die Welt.
Die jetzigen Versorgungsängste können eine Lehre sein, mit den knappen Ressourcen der Erde sorgsam umzugehen. Erinnert sei hier an die mühsamen Anfänge der motorisierten Mobilität. Damals, als 1888 Bertha Benz sich mit ihren Kindern – ohne Wissen ihres Carl – auf die erste Fernfahrt der Automobilgeschichte begab, von Mannheim nach Pforzheim zu ihrer Mutter. Sie musste für die 100 Kilometer lange Strecke unterwegs sämtliche Ligroin-Vorräte – ein Leichtbenzin eigentlich für sanitäre Zwecke – mehrerer Apotheken aufkaufen. Berthas Autokutsche schluckte nur diesen Leicht-Treibstoff.
Bis 1900 mussten sich Automobilisten den Sprit für tollkühne Kisten in der Apotheke besorgen – eine Apotheke in Wiesloch gilt heute als erste Tankstelle der Welt. Die erste echte Tankstelle im Deutschen Reich wurde Ende 1922 von der Mineralölfirma Olex in Hannover eröffnet. Ende der 1930er-Jahre gab es in Deutschland einen Höchststand von 60.000 Tankstellen, 1970 waren es nach dem Wiederaufbau immerhin noch rekordnahe 46.000, heute stagniert die Zahl seit Mitte der 2000er bei knapp 15.000.
Die Zeiten, in denen man dem hilfreichen Tankmann beim Scheibensäubern ein fröhliches „Bitte volltanken"! zurufen konnte, sind vorbei. Noch gibt es zwar in manchen Dörfern die Tante-Emma-Tankstellen, wo man nicht nur Benzin und Diesel, sondern auch Rat und Tat finden kann, und vor allem auch die Dorfneuigkeiten erfährt – kurz: die gute alte Zeit.
Doch auch hier setzt der Ukraine-Krieg die Axt an: Die Zählwerke der alten Zapfstellen reichen nur bis 1,99 Euro! Die Preisexplosion der Spritpreise übersteigt ihr altes Zählwerk, sodass sie nur noch die Halb-Liter-Preise anzeigen können. Der Rest muss im Kopf oder von Hand ausgerechnet werde. Was beim Spritsparen ja durchaus eine hilfreiche Übung sein kann.