Am Ende haben alle verloren. Keiner der mehr oder minder mühsam verabredeten Vorschläge für eine Impfpflicht-Variante hat eine Mehrheit gefunden. Ein neuer Vorstoß ist unwahrscheinlich.
Die Infektionszahlen stiegen von Rekordhöhe zu Rekordhöhe. Die Krankheitsverläufe waren zwar in der Regel nicht so schlimm wie bei früheren Varianten, damit blieb auch die sogenannte Hospitalisierungsinzidenz, also die Quote der Corona-Patienten in Krankenhäusern und dort auf Intensivstation, in einem erträglichen Maß. Aber die hohen Infektionszahlen sorgten für Ausfall von Krankenhauspersonal. Damit war der Kern berührt, der seit dem Ausbruch der Pandemie als zentrales Argument galt für alle Maßnahmen, die die Pandemie in Grenzen halten sollten. Eine Überlastung des Gesundheitssystems sollte mit allen Anstrengungen verhindert werden. Die Bilder von Bergamo zu Beginn der Pandemie in Europa haben allen in den Knochen gesteckt.
In Sachen gescheiterte Impfpflicht ist so ziemlich alles schiefgelaufen, was daneben gehen konnte. Fast schon symbolisch dafür mag stehen, dass am Schluss die Abstimmung darüber, wie man über die verschiedenen Vorschläge abstimmen will, fast wichtiger geworden war als das, worum so lange gestritten wurde. Ein Politpoker der besonderen Art hat so einen – möglicherweise nur vorläufigen – Abschluss gefunden. Am Ende ist eigentlich egal, welcher Vorschlag nun zur Abstimmung stand. Irgendwie haben sich alle, wie es aussieht, verzockt.
Die Impfpflicht zu einer Gewissenentscheidung des einzelnen Abgeordneten zu erklären, also eine Abstimmung ohne Fraktionszwang, war bereits zu Beginn fragwürdig. Üblicherweise wird dieser Weg bei Themen beschritten, die große ethische Fragen berühren.
Zeitpunkt und Verfahren verkorkst
Dass eine Impfpflicht auch eine ethische Frage ist, weil es um widerstreitende grundlegende Rechte geht, die gegeneinander abgewogen werden müssen, ist ohne Zweifel so. Nur war schon im letzten Jahr klar, dass das Thema parteipolitisch hoch aufgeladen ist.
Vor Beginn der Pandmie war Alena Buyx nur Insidern bekannt. Seither ist sie als Vorsitzende und andere Mitglieder des Ethikrates so oft interviewt worden wie selten zuvor. Deren Hinweise waren ohne Zweifel hilfreich, um grundlegende Fragen, vor die die Pandemie die Politik gestellt hat, einordnen zu können. Ob es jeweils hilfreich war, darüber gehen die Einschätzungen auseinander. Zunächst war der Ethikrat gegen eine allgemeine Impfpflicht, und selbst bei der einrichtungsbezogenen Impfpflicht eher zurückhaltend. „Wir haben eine berufsbezogene Impfpflicht für nicht ausgeschlossen gehalten, aber nicht für notwendig erachtet", erläutert Alena Buyx gegenüber FORUM. Ethische Grundprinzipien würden sich nicht verändern, aber wenn sich die Situation ändere, komme man möglicherweise zu anderen Schlussfolgerung, erklärt Buyx weitere Stellungnahmen zu diesem Thema.
Während der zwei Jahre Pandemie hat sich die Situation ständig verändert. So muss auch die Medizin-Ethikerin einräumen, dass sie mit einer deutlich höheren Impfquote – auf freiwilliger Basis – gerechnet hätte. Was in der Folge heißt, ursprüngliche Einschätzungen müssen noch mal überprüft werden. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, nur zeigt sich an dieser Stelle, dass Denk- und Argumentationsweisen von Ethikern und Politikern außerordentlich unterschiedlich sind. Der Ethikrat hat die Politik mit Argumenten für und gegen eine Impfpflicht versorgt, die Debatte hatte aber schlussendlich wenig mit ethischen, sondern viel mit parteipolitischen und anderen Erwägungen zu tun.
Dass die Ampel-Koalition keinen Konsens zustande brachte, kann mangelnder Führungskraft zugeschrieben werden. Allerdings hatte Kanzler Scholz Führungsanspruch in dieser Frage von vornherein gleich an die Abgeordneten abgegeben. Ab dann wirkten die Debatten zeitweise wie eine Kombination aus verspäteter Fortsetzung des Wahlkampfs und gleichzeitiger Suche nach neuen Rollenformaten, innerhalb der Ampel, aber genauso in der Opposition. Zum Schluss kam ein Gefeilsche (Impfpflicht ab 50 oder ab 60) heraus, das wie ein Tarifpoker wirkte. Auf die Idee, dass es sich bei der Abstimmung um eine Gewissenentscheidung der einzelnen Abgeordneten gehandelt hätte, dürfte am Schluss kaum noch einer mehr gekommen sein.
Aber nicht nur das Verfahren war verkorkst, sondern auch die Zeitfolge. Der Schwenk von einer Ablehnung zur Unterstützung einer Impfpflicht kam zu einer Zeit, wo klar war, dass selbst bei Verabschiedung einer Impfpflicht die zur Bekämpfung der extremen Ausbreitung der Omikronvariante zu spät kommen würde. Blieb somit das Argument, für den kommenden Herbst und weitere mögliche Varianten gewappnet zu sein. Insbesondere Gesundheitsminister Karl Lauterbach drängte und argumentierte damit, konnte aber nicht durchdringen.
Offenbar stand die Gemütsverfassung vieler noch ganz im Zeichen des 2. April, ab dem ein ganz großer Teil bisheriger Einschränkungen und verpflichtender Vorsichtsmaßnahmen weggefallen sind, was nicht wenige als „Freedom day" feierten. Das war zu einer Zeit, wo Infektionszahlen Größenordnungen erreicht hatten, die vor nicht allzu langer Zeit schlicht als Horrorszenario gegolten hatten.
Lauterbachs Warnung vor dem kommenden Herbst und vor möglichen neuen Varianten ist mit den gescheiterten Abstimmungen zwar zunächst politisch vom Tisch, aus sachlichen Erwägungen, wie es zahlreiche Stellungnahmen zeigen, aber nicht. Erst recht nicht, wenn man sich die Entwicklung der Impfquoten ansieht. Die Hoffnung, mit Novavax, einem „traditionellen" Impfstoff, würden sich viele, die bislang einer Impfung mit den neuartigen Impfstoffen skeptisch gegenüberstanden, in großer Zahl nun doch zu einer Impfung durchringen, erweist sich eher als Enttäuschung.
„Nicht optimal" für den nächsten Herbst
Am 10. April weist das RKI ImpfDashboard aus: 76,6 Prozent haben mindestens eine Impfung, 76 Prozent eine Grundimmunisierung, 59 Prozent eine Auffrischungsimpfung (Booster). Heißt umgekehrt: Fast ein Viertel (23,4 Prozent) ist nach wie vor ohne Imfpung. Zieht man die Personengruppen ab, für die es noch keinen zugelassenen Impfstoff gibt (Kinder bis vier Jahre), dann ist immer noch knapp ein Fünftel ohne Impfung. Im internationalen Vergleich gibt das ein recht bescheidenes Bild ab.
Nach den gescheiterten Abstimmungen gab es immer wieder auch prominente Einlassungen mit dem Hinweis, damit sei eine Impflicht, ob allgemein oder zumindest ab einem bestimmten Alter, ja nicht für alle Zeiten vom Tisch. Das kann besänftigende Hoffung nach der Niederlage sein. Wenn es aber ernst gemeint wäre, etwa im Blick auf den nächsten Herbst, dann würde die Debatte – genauso wie zu Beginn der Ausbreitung von Omikron – erneut zu spät greifen, wie auch die Deutsche Gesellschaft für Immunologie betont.
Kanzler Scholz will von einem neuen Anlauf jedenfalls nichts wissen. Auch Minister Lauterbach räumt dem wenig Chancen ein. In Sachen Impfpflicht hat er kein besonders gutes Bild abgegeben. Als Mahner vor drohenden Entwicklungen hat er aber in der Vergangenheit in aller Regel nicht danebengelegen. Jetzt fürchtet er, dass man im Herbst „wahrscheinlich ein drittes Mal nicht optimal in die dann zu erwartende Welle" laufen wird. Selbst eine Sommerwelle hält er für möglich, begünstigt durch den Wegfall von so gut wie allen schützenden Maßnahmen.
Unstrittig bleibt – außer bei den notorischen Impfgegnern – dass Impfen nach wie vor die schärfste Waffe im Kampf gegen die Pandemie ist. Und ebenso unstrittig ist: Viren haben eine hohe Mutationsrate und sind raffiniert. Die Entwicklung von Omikron ist ein eindrucksvolles Beispiel, auch dafür, dass Impfen zwar nicht zu hundert Prozent vor Ansteckung schützt, aber in hohem Maß vor schweren Verläufen.