Der Kia EV6 holt die 800-Volt-Technologie in die Mittelklasse. Damit ist der koreanische E-Crossover schnell – und zwar dort, wo es drauf ankommt: beim Laden. Und er ist ein Beispiel, wie E-Mobilität immer alltagstauglicher wird.
Da steht er – ohne Nase: Dem EV6 fehlt Kias Tigernasen-Grill, typisches Design-Merkmal von Autos der koreanischen Marke. Dafür gibt es zwischen den beiden Scheinwerfern einen schmalen Schlitz, und in der Mitte der zu den Radkästen hin stark gewölbten Fronthaube sitzt das neue Markenlogo. Mindestens zwei Botschaften vermittelt Kias Elektroauto, das wie das dezentere Schwestermodell Hyundai Ioniq 5 auf der Konzernplattform für E-Autos E-GMP fußt, schon im Stand: Wuchtig-sportlich will es sein – und innovativ.
Ein Blick in die technischen Daten verrät: Technologisch ist der Koreaner unter den E-Autos spannend weit vorn. Noch nicht viele batterieelektrische Fahrzeuge gibt es mit 800 Volt Betriebsspannung, der EV6 holt sie in die Mittelklasse und stellt sich damit auf eine Stufe mit dem Porsche Taycan. Gängig bei E-Autos sind 400 Volt.
In 18 Minuten bis 80 Prozent geladen
Die Vorteile der Stromarchitektur zeigen sich in praktischem Nutzen: Verkabelungen bekommen einen kleineren Durchschnitt, womit Raum gewonnen wird. Vor allem aber macht der Kia Zeit gut: Kia gibt an, in 18 Minuten sei der Akku des EV6 von zehn auf 80 Prozent geladen. Das bedeutet zumindest theoretisch: In fünf Minuten ist Strom für 100 Kilometer mehr in der 77,4-kWh-Batterie des Testwagens. Was man dazu allerdings benötigt, ist eine der derzeit noch rar gesäten HPC-Schnellladesäulen (High Power Charging).
An der Ladesäule verspricht die 800-Volt-Technologie Ladeleistungen von bis zu 240 kW. Zum Vergleich: VWs ähnlich dimensioniertes E-SUV I.D. 4 kann 135 kW. Aber selbst mit der Hälfte der Ladeleistung, die sich vor allem bei niedrigen Außentemperaturen reduziert, geht das Stromtanken beim Kia recht flott. Eine Wärmepumpe kostet 1.000 Euro Aufpreis. Vorteil: Wer’s im Auto schön warm mag, zahlt dies nicht so teuer mit Reichweitenkilometern.
Kaufen kann man den EV6 neben der 77,4-kWh- auch mit einer Batterie mit 58 kWh, dann spart man beim Listenpreis 4.000 Euro. Wer hingegen einen Allradantrieb möchte, den es nur in Verbindung mit der größeren Batterie gibt, muss 4.000 Euro drauflegen. Preislich geht es bei 44.990 Euro los, ein Taycan kostet fast das Doppelte.
Natürlich bietet der EV6 nicht die Fahrleistungen des Porsche, der wenigstens 230 km/h schafft und in 5,4 Sekunden auf 100 ist. Der getestete Koreaner schafft „nur" 7,3 Sekunden und 185 km/h Spitze. Zum Herbst kommt aber eine GT-Version, die dem Porsche das Wasser reichen kann. Doch Rasen genießt in Zeiten von hohen Energiekosten und Rohstoffknappheit ohnehin keinen guten Ruf. Und unsportlich fährt sich der EV6 dennoch nicht.
Ab Werk zahlreiche Assistenzsysteme
Im Fahrmodus Sport ist das Sprintvermögen vor allem auf den ersten Metern E-Auto-typisch pfeffrig ausgeprägt, das Fahrwerk federt straff, die Lenkung ist direkt, aber fühlt sich mit der etwas überdosierten Lenkkraftunterstützung auch unnatürlich an. Wer zackige Lenkmanöver riskiert, wird von einem früh eingreifenden ESP erzogen. Das steigert das Sicherheitsgefühl.
Wobei die Fülle der Assistenzsysteme groß ist: Ab Werk sind ein Notbremssystem mit Kollisionswarner, ein adaptiver Tempomat und ein Lenkassistent an Bord. Gleiches gilt für Müdigkeitswarner, Kreuzungs- wie Verkehrszeichenassistent. Totwinkelwarner mit Querverkehrwarnung und ein innovativer Ausstiegsassistent, der Fondspassagiere vor von hinten nahenden Autos warnt, können zugebucht werden. Ebenso ein teilautonomer Autobahnassistent, der sich am vorausfahrenden Auto orientiert. Der hält zwar mittig die Spur, erkennt aber zu oft die Hände am Lenkrad nicht und nervt dann mit unnötigen Warnhinweisen. Praktisch dagegen: Das aufpreispflichtige Head-up-Display projiziert dank Augmented-Reality-Funktion Abbiegehinweise „auf die Fahrbahn".
Fein abgestimmt und hintergründig unbemerkt fleißig arbeitet die sogenannte Rekuperation. Je nach Abstand zum vorausfahrenden Verkehrsteilnehmer, Topografie und Tempolimits dosiert der EV6, wie viel er elektrisch bremst und Energie zurückgewinnt. Während der Fahrt merkt man davon kaum etwas.
Die intelligente Elektronik trägt zumindest auf dem Blatt zum gemäßigten Stromdurst des 1,8-Tonnen-Autos bei, den Kia mit 16,5 kWh auf 100 Kilometer angibt. Wir ermittelten bei unserem Test auf gemischtem Streckenprofil 21,1 kWh.
Maßstab in Sachen Alltagsnutzen ist das Platzangebot, und das ist formidabel. Dank des langen Radstands von 2,90 Metern ist nicht nur auf den vorderen Plätzen für viel Raum gesorgt. Auch die Beinfreiheit im Fonds ist riesig, während die Coupé-Linie der Karosserie großgewachsenen Mitfahrern Kopffreiheit raubt. Der Kofferraum fasst laut Hersteller 490 bis 1.300 Liter, hinzukommen ein Fach mit 60 Litern im Kofferraumboden sowie 50 Liter unter der Fronthaube.
Als Steckdose für andere nutzbar
Netter Green-Washing-Versuch aus der PR-Abteilung: Die Sitzbezüge sind unter Verwendung von recyceltem Kunststoff gefertigt – was für die große, nur energieaufwendig zu fertigende Batterie indes nicht gilt. Tolle Idee fürs Nickerchen während Ladepausen: Optional lassen sich Fahrer- und Beifahrersitz per Knopfdruck in die Liegeposition fahren. Sobald wieder aufgerichtet, blickt man auf eine weite Display-Landschaft. Beide – sowohl das Digital-Cockpit als auch die Infotainment-Anzeige – messen mehr als 30 Zentimeter in der Diagonale. Das Kombi-Instrument lässt sich individuell einstellen und zeigt neben der Geschwindigkeit unter anderem die Restreichweite und den Ladezustand der Batterie an.
Der Touchscreen des serienmäßigen Navis dient zugleich zur Menüsteuerung –
auch der Klimaanlage. DAB-Plus-Radio, Bluetooth-Freisprecheinrichtung und -Audiostreaming sowie Apple Car-Play und Android Auto kosten ebenfalls keinen Aufpreis. Um das Smartphone auf dem Touchscreen zu spiegeln, muss man es noch immer verkabeln – was die induktive Ladeschale im Grunde ad absurdum führt.
Eine andere Ladefunktion dagegen untermalt wiederrum den Anspruch, mit dem EV6 einen innovativen Wurf gelandet zu haben: Vehicle-to-load – der Ladeanschluss wird durch einen beiliegenden Adapter in eine Steckdose verwandelt, über die man Strom mit einer Leistung von bis zu 3,6 kW aus der Fahrzeugbatterie entnehmen kann.
Dann lassen sich laut Kia Haushaltsgeräte „wie ein Fernseher oder eine Kaffeemaschine" anschließen – auch das klingt etwas absurd. Wobei das vielleicht für den Campingurlaub gedacht ist. Schon realistischer: Auch ein E-Bike lässt sich über den EV6 auffrischen – oder sogar andere E-Autos. Dass der EV6 solche Stromspenden selbst benötigt, ist angesichts seiner Reichweite von offiziell bis zu 528 Kilometern eher unwahrscheinlich.