Vom Industrie- zum Wissensort: Esch an der Alzette im Süden Luxemburgs ist Kulturhauptstadt Europas. Rund 2.000 Veranstaltungen stehen unter dem Leitmotiv „Remix Culture".
Esch an der Alzette im Südwesten Luxemburgs ist in diesem Jahr eine der drei Kulturhauptstädte Europas. Und weil sich eine Schnapszahl geradezu dafür anbietet, fing das umfangreiche Kulturprogramm am 22. Februar 2022 an.
Bis in die 70er- und 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts war die Region im Süden Luxemburgs von Stahlhütten und vom Bergbau geprägt. Ein klassisches Industrierevier, in dem ehrliche, harte Arbeit dominierte – bis die Hochöfen kalt wurden und die Schlote nicht mehr rauchten, weil Stahlherstellung in Westeuropa nicht mehr rentabel war. Einige Hochöfen wurden verkauft, insbesondere nach Asien, zwei jedoch hat man stehen lassen und zu Denkmälern umfunktioniert. Und einmal im Jahr wandelt sich Esch-Belval, der wichtigste ehemalige Stahlstandort, in ein Freizeitmekka und in eine Art Abenteuerspielplatz rund um die herausgeputzten Industriefossilien. Dann ist Hochofenfestival, ein Event mit Licht- und Feuershows, mit kulturellem Programm und geführten Besichtigungen – und mit einer Seilrutsche, auf der Wagemutige zwischen Hochofen A und Hochofen B in 60 Meter Höhe durch die Luft rasen können. Die beiden 80 beziehungsweise 90 Meter großen Hochöfen, einer davon kann in den Sommermonaten auch von innen besichtigt werden, sind mittlerweile Industriedenkmäler. Für ihre Konservierung und den Unterhalt werden viele Millionen Euro ausgegeben.
Die Industrie ist aus Belval zwar noch nicht völlig abgezogen, der Stahlgigant Arcelor Mittal betreibt hier noch Stahlrecycling, doch geprägt ist der Ort von anderen Dingen – insbesondere einer großen Universität, deren sehenswerte Bibliothek in Teilen des ehemaligen Industriekomplexes untergebracht ist, und einer Reihe von Forschungseinrichtungen. Diese machen das moderne Belval zu einer „Stadt der Wissenschaft, der Forschung und der Innovation." Das erste markante Gebäude, das bei der Neugestaltung des Stadtteils fertiggestellt wurde, war übrigens eine Konzert- und Veranstaltungshalle, die Rockhal, die 2005 eingeweiht wurde. Dort geben sich seit mehr als 15 Jahren Rock- und Popgrößen wie Mark Knopfler, Lady Gaga und Anastacia die Klinke in die Hand.
Diese Rockhal wird während des gesamten Jahres zu einem wichtigen Veranstaltungs- beziehungsweise Eventzentrum im Kulturhauptstadtjahr. Ebenso wie die nahegelegene Möllerei, ein Gebäude, in dem früher die Roh- und Zusatzstoffe mit Erz gemischt wurden, bevor die Mixtur in den Hochofen kam. Ein markanter Industriebau, dessen bislang ungenutzter Teil für viel Geld rechtzeitig zum Kulturhauptstadtjahr saniert wurde, um Workshops und Ausstellungen durchführen zu können. Ab Februar wird dort die Ausstellung „Hacking Identity – Dancing Diversity" gezeigt, die vom Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe (ZKM) gestaltet wird. Sie steht bis Mai auf dem Programm, anschließend folgen zwei weitere bedeutsame Ausstellungen. Diese widmen sich dem Kulturhauptstadt-Motto „Remix" aus verschiedenen Perspektiven und werden vom Haus der Elektronischen Künste in Basel und vom Ars Electronica Center aus Linz verantwortet.
„Von roter Erde zu grauer Masse" – so lautet der Leitgedanke aller drei Möllerei-Ausstellungen, die den Wandel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft verdeutlichen sollen.
Rote Erde – was hat es damit eigentlich auf sich? Rot ist die Erde immer dann, wenn sie viele Oxyde beinhaltet. Es geht also um Eisenerz, das in der Region lange Zeit gewonnen wurde, anfangs vor allem in Minen, seit den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts zusätzlich im Tagebau. Der Abbau der sogenannten Minette, das Wort stammt von französischen Bergleuten und bedeutet „kleines Erz", wurde vor etwa 40 Jahren aufgegeben: 1978 schloss der letzte Tagebau, 1981 der letzte Grubenbetrieb.
Die Arbeitskleidung hing zum Trocknen an der Decke
Wir besuchen die Grube Katzenberg im Ellergrund, eine Eisenerzmine, die auch den Namen Cockerill-Mine trug und die Ende 1967 stillgelegt wurde, nachdem sie vorher rund 85 Jahre in Betrieb war. Heute finden sich hier eine ehemalige Schmiede und ein kleines aber feines Museum, das die Geschichte des Luxemburger Bergbaus aufzeigt. Paul Ennesch, ein Mitarbeiter der luxemburgischen Forstbehörden, führt uns durch die Ausstellung. Er berichtet, dass vor allem Einwanderer aus Italien die Arbeiterschaft hier stellten und dass auch Kinder zur Arbeit in den Stollen eingesetzt wurden. Die Minenarbeiter, so erfahren wir, waren so etwas wie die Uber-Fahrer der damaligen Zeit – denn sie hatten kein Festgehalt, sondern wurden nach Tonnage bezahlt. Bizarr mutet der ehemalige Umkleideraum der Arbeiter an, der noch erhalten ist. Da es keine Spinde gab, hing die Arbeitskleidung an den Decken, dort konnten feuchte Hosen und Jacken wieder trocknen. „In der Zeit vor den Banken", so das Fazit von Paul Ennesch, „hat die Eisenindustrie den Wohlstand Luxemburgs ausgemacht."
Alain Kleeblatt, den wir im Fond-de-Gras treffen, lässt uns noch detaillierter in die Vergangenheit Luxemburgs eintauchen. Er berichtet davon, dass Luxemburg, mittlerweile mit Abstand das reichste Land Europas, bis vor etwa 200 Jahren sehr arm gewesen sei und hauptsächlich von Bauern besiedelt gewesen war. Nachdem um 1860 in kleinem Stil mit dem Bergbau begonnen wurde, seien in den 1870er-Jahren Gesetze erlassen worden, die die Ausbeutung der Minette beziehungsweise des Eisenerzes in großem Stil ermöglichten. Es wurde festgelegt, dass alle Bodenschätze unterhalb von acht Metern Tiefe der Allgemeinheit beziehungsweise dem Staat gehören. Auf dieser Grundlage konnte die Regierung Konzessionen an Unternehmen erteilen – und diese wurden an Auflagen geknüpft. „Als Gegenleistung mussten die Konzessionsnehmer insbesondere Eisenbahnen bauen", erläuterte Alain Kleeblatt, ein pensionierter Journalist, der sich als Touristenführer auf die Industriegeschichte der Region spezialisiert hat.
Fahrten mit alter Dampflokomotive
In die Stollen selbst wurden Schmalspurgleise verlegt, auf denen Pferde die Loren ziehen mussten. „Ein Pferd ist normalerweise mit acht leeren Loren reingegangen, beim Herausgehen, als die Loren voll waren, hat es höchstens drei geschafft", berichtet Kleeblatt. Der Untertagebau war ein gefährliches Unterfangen, immer wieder stürzten einzelne Stollen ein. „Die Ratten waren die besten Freunde unserer Bergleute, deshalb wurden sie von den Bergarbeitern gefüttert. Wenn die Ratten wegliefen, dann war es auch für die Arbeiter höchste Zeit, aus den Stollen zu laufen", weiß Kleeblatt. Von 1860 bis 1970, so berichtet er, sind insgesamt 1.477 Menschen in den Minen ums Leben gekommen. „Offiziell durfte man erst ab 16 Jahren dort arbeiten, aber der jüngste erfasste Tote war erst 13 Jahre alt", ergänzt der Führer, der uns durch den Minettpark Fond-de-Gras führt. Dort werden in einer hierher verlegten Ausstellungshalle, der Paul Wurth-Halle, alte Dampfmaschinen, Elektrogeneratoren und weitere ausrangierte Maschinen und Industrierelikte aus verschiedenen Teilen Luxemburgs präsentiert
Ein weiterer Grund, nach Fond-de-Gras zu kommen, ist der „Train 1900". Betrieben wird er von einem ehrenamtlichen Verein, der von Mai bis Oktober regelmäßig Dampflokfahrten auf der ehemaligen Eisentransportroute zwischen Fond-de-Gras und Pétange durchführt. Diese „Ligne des Minières" wurde ab 1875 von der Prinz-Heinrich Eisenbahngesellschaft erbaut. Die Dampfloks, die heute dort verkehren, stammen zum Großteil aus den ehemaligen Eisenhütten – und fahren durch eine Landschaft, die durch den Eisenerzabbau geformt wurde. Dass die Bahnstrecke so außerordentlich kurvig verläuft, so beteuert Kleeblatt, liegt nicht allein an den natürlichen Gegebenheiten, sondern auch an den Modalitäten der Konzessionsvergabe: Je mehr Kilometer Schienen verlegt wurden, desto umfassendere Abbaukonzessionen erhielt der Betreiber. In Fond-de-Gras kehren wir ein im Restaurant „Bei der Giedel", einer Gaststätte, die inzwischen ein Ausflugslokal ist, die aber früher ein beliebter Treffpunkt der Minenarbeiter war. In der 1880 gegründeten Gaststätte werden die traditionellen Luxemburger Schinkenplatten angeboten, empfehlenswert sind aber auch verschiedene Toastspezialitäten, Raclettes oder Flammkuchen.
Der Minettpark Fond-de-Gras ist Teil der Minett-Tour, einer etwa 35 Kilometer langen Route, die fünf ehemalige Industriestandorte verbindet, darunter auch Belval und die Cockerill-Mine. Diese und weitere Industrierelikte im ehemaligen Bergbaugebiet sind auch durch einen rund 90 Kilometer langen Fernwanderweg verbunden, dem Minett-Trail. Dieser wird im Kulturhauptstadtjahr kräftig aufgepeppt. Entlang des Wanderwegs werden elf besondere Übernachtungsmöglichkeiten, sogenannte Kabaisercher, eingerichtet, die insgesamt 80 Personen Platz bieten. Die Unterkünfte sind Ergebnis eines Architektenwettbewerbs, der im Vorfeld des Kulturhauptstadtjahres durchgeführt wurde. So entstanden Übernachtungsideen, die außergewöhnlich sind. In Fond-de-Gras schlafen Urlauber in Eisenbahnwaggons, in Dudelange in einer schwimmenden Unterkunft auf der Wasserfläche eines ausrangierten Kühlbeckens, in Bettembourg in einem Turm und in Esch selbst im „Pump it up" – einer futuristischen Glaskugel, die wirkt wie eine überdimensionierte Schneekugel.
Mehr als 2.000 Events
Die Verbindung der renaturierten Bergbaulandschaften mit den vielfältigen Kulturangeboten in den Gemeinden und den wiederbelebten Industriebrachen, das ist der Kern des Kulturhauptstadtjahrs „E22". Eine ganz besondere Mischung sozusagen – und alles neu zu mischen, genau das ist auch das Motto des Kulturhauptstadtjahres.
„Remix Culture" ist die Leitüberschrift, die als Klammer über den Veranstaltungen steht. Ein Leitmotiv, das in vier Unterkategorien heruntergebrochen wird: „Remix Art", „Remix Europe", „Remix Nature" und „Remix Yourself". Das Programm ist so vielfältig, dass es schwerfällt, einen roten Faden zu erkennen, der inhaltlich trägt und der über aneinandergereihte Buzzwörter wie „Nachhaltigkeit", „Synergien", „Transformation", „Partizipation", „Brücken bauen" und ähnliches hinausgeht. Geboten wird ein umfassendes Sammelsurium, das zugegebenermaßen vielseitig ist und das von der Hochkultur bis zum Karnevalsumzug so gut wie alles beinhaltet. Allerdings ist zu erwarten, dass sich in dem Programm auch echte Perlen finden werden. Schließlich lässt man sich das Kulturhauptstadtjahr einiges kosten: Insgesamt 154 Millionen Euro werden für Um- und Neubauten, Kulturprogramm, Personal und Marketing zusammengenommen ausgegeben.
160 Projekte mit mehr als 2.000 Events sollen umgesetzt werden, nicht nur in Esch, sondern auch in den angrenzenden Gemeinden. Diese liegen im Süden Luxemburgs, aber auch in nahegelegenen Teilen Frankreichs. In der grenzüberschreitenden Kulturhauptstadt-Region leben insgesamt 200.000 Menschen aus 120 Nationen, so Generaldirektorin Nancy Braun. Der großzügige Etat ermöglicht es, auch abseitige Ideen zu verwirklichen. Etwa ein Projekt, das die Verbindung der 35.000-Einwohner-Stadt Esch mit dem rund 70 Millionen Kilometer entfernten Planeten Mars in den Mittelpunkt stellt. Das Argument der Kuratoren, die hier ganz selbstbewusst nach den Sternen greifen, ist so simpel wie einleuchtend: Rote Erde gibt es schließlich hier wie dort.
Ein Ausflug nach Esch an der Alzette dürfte sich 2022 also lohnen – und kann auch leicht mit einem Abstecher nach Luxemburg-Stadt verbunden werden. Die Bahnen und Busse, die zwischen Esch und Luxemburg-City verkehren, sind sogar kostenlos. Über das Thema Nachhaltigkeit wird im Großherzogtum eben nicht nur geredet, es wird auch gehandelt – beispielsweise dadurch, dass man den öffentlichen Nahverkehr überall für die Nutzer gratis anbietet.