Nordengland. 1946. Der Zweite Weltkrieg ist vorbei, aber der brennende Rauch, der sich über die Welt gelegt hat, noch längst nicht verzogen. Das Leben muss sich erst neu einrichten in dieser dunklen Nachkriegszeit. Doch zwischen Hunger und Armut blinzelt auch das Licht der Hoffnung, denn zumindest herrscht jetzt Frieden. Noch fragil und in unscharfe Konturen gebrannt, doch immerhin.
Für den 16-jährigen Robert ist das Leben noch ein ungeschriebenes Buch. Er weiß nur, dass er raus muss. Raus aus der Enge der elterlichen Umklammerung und einer Zukunft, die ihn wie die Generationen vor ihm, unter Tage in die staubigen, sonnenlosen Höhlen eines Bergwerks zwingen würde. Robert möchte vor allem das Meer sehen, die Weite der offenen See. So macht er sich eines Sommertages auf den Weg, ein junger Pilger, der noch nicht genau weiß, was er will, aber wohin er will. Doch der Plan einer Pilgerreise wird jäh beendet, als Robert an einem kleinen Cottage vorbeikommt und er eine alleinstehende ältere Frau namens Dulcie kennenlernt. Aus einem Tee am Nachmittag werden schließlich Wochen und am Ende des Sommers haben sich beide verändert. Dulcie, weil sie sich einer vergrabenen, schmerzvollen Erinnerung stellen muss und Robert, weil er den Horizont seines Lebens erweitert hat. Beide helfen einander, und so entwickelt sich eine ungewöhnliche Freundschaft, die weit über diesen einzigartigen Sommer in Nordengland hinausgeht.
„Offene See" ist ein wundervoller, leiser Roman und Benjamin Myers besitzt die Gabe, kunstvoll und poetisch zu schreiben, ohne die Grenzen zum Kitsch zu überschreiten. Er zeichnet ein Bild von einem England, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg erst wieder neu finden muss und verbindet es mit dem Weg von Robert, der auch auf der Suche nach seinem Leben ist. Die offene See ist dabei Sehnsucht und Schmerz zugleich.
„Offene See" wurde übrigens 2020 zum Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels gewählt. Eine Auszeichnung, die das Buch mehr als verdient hat.