Wie die Duzeritis ungewollte Nähe und nachhaltig Distanz schafft
Hey, wohnst Du noch oder lebst Du schon? Während sich der charmant-schwedische Werbeslogan seit zwei Jahrzehnten nicht nur bei Ikea-Pilgern höchster Beliebtheit erfreut, gibt es bei der plötzlichen persönlichen Ansprache via Du in Alltag und Job eine schweigende Mehrheit, die innerlich zusammenzuckt. Oder die, um mit der Queen zu sprechen, „not amused" ist.
Aber im Englischen stellt sich die Frage ja auch erst gar nicht. Denn dort heißt es schlicht und ergreifend „you" –
egal, ob Vorgesetzte oder Untergebene, Gäste oder Servicekräfte, Dienstleister oder Kundschaft. So zumindest die Argumentation der Dauer-Duzer, die sich hierzulande sprungartig vermehren. Dabei übersehen sie gern, dass es im englischsprachigen Raum eine Reihe von Höflichkeitsabstufungen gibt, wonach „you" mit „Sie" zu übersetzen ist.
War es in den 90ern noch kellnernden Schauspielschülern in Prenzlauer Berg vorbehalten, die viel beschriebenen Latte-Macchiato-Mütter und Bionade-Biedermännern bei der Bestellungsaufnahme in ihrer Berliner Szene-Bar zu duzen, so macht die Duzeritis 2022 vor nichts und niemandem mehr halt.
Während das Duzen in der Hipster-Bar für mich wie der Werbe-Sprech zum Köttbullar-Lunch im schwedischen Möbelhaus zum Ritual gehört, fühle ich mich in letzter Zeit immer öfter immer unangenehmer berührt: weil mir kaum bis unbekannte Menschen ungefragt und unvermittelt Nähe schaffen!
Gern mal mit einem spitzen „Sorry, wir sind hier per Du, das ist unsere Firmenkultur" (im Business) oder à la „Piep, Piep, Piep – Wir haben uns alle lieb": „Wir sind doch hier unter uns, in einer vertrauensvollen Atmosphäre" (gern bei Weiterbildungen) oder, universal eingesetzt, als rhetorische Frage, die keine Verneinung duldet: „Wir duzen uns hier – da hat doch niemand etwas dagegen?!"
Unangenehm berührt wohl auch, weil das „Du" – im Gegensatz zum „you"– oft mit mangelnder Höflichkeit und Benehmen (Neudeutsch: Empathie und Wertschätzung) einhergeht. Oder möchte wirklich jemand die inflationsbedingt gefühlt doppelten Preise für ein Auswärts-Dinner zahlen, wo es heißt: „Und, was willste?" Kein „Guten Tag", kein „Herzlich willkommen"? Kein schon einmal die Garderobe abnehmen oder den Tisch sauber machen?
Auch bei der Physiotherapie möchte nicht nur ich nicht auf der Liege ausgeliefert sein und mit Fragen penetriert werden, die kein kurzes „fine" akzeptieren, sondern nach ausführlicher Beantwortung verlangen: Und was hast Du am Wochenende so gemacht? Und wovon genau handelt Dein neues Buch? Schließlich bin ich keine Alleinunterhalterin für gelangweilte Physio-Kräfte, sondern vielmehr Patientin und Kundin, der es erlaubt sein sollte, zu spüren, zu schweigen, zu genesen. Medizinische Studien zeigen: Mit Geplapper geht das eher schlecht.
Grassierender noch ist die Duzeritis im Job. Dort tun es immer mehr Vorstände Cherno Jobatey gleich, dem medialen Sneaker-Revoluzzer der 90er, und verkünden mit abgelegter Krawatte die neue Duz-Kultur, um Innovationsfähigkeit zu zeigen und dem Nachwuchs Gleichberechtigung zu suggerieren. Doch vergessen sie dabei eins: Bei ihnen arbeiten heute bis zu fünf Generationen unter einem Dach – und das Duz-Angebot kommt zwar traditionell von oben, eine Kultur-Revolution, sprich „Wertewandel im Unternehmen", aber von unten … Und während die einen sich schweigend zurückziehen, übertragen die anderen es womöglich eins zu eins auf Kundschaft, Stakeholder und Multiplikatoren …
Übrigens, New Work, New Leadership und Arbeit auf Augenhöhe funktioniert auch per Sie. Professionelle Freundlichkeit und wertschätzende Distanz gegenüber Kunden und ein respektvoller Umgang in Abteilungen und Teams bringen mehr als ein verordnetes Du, das künstlich ungewollte Nähe schafft – und so manchen nachhaltig verprellt.
Das bestätigt mir übrigens auch Ikea, wo ich als Impulsgeberin zu einem Workshop eingeladen bin: Duzen nur im Slogan, im Team wer mag – und Kunden immer per Sie! Das Sie ist tot. Es lebe das Siezen!