In früheren Jahrhunderten wurde zur Musik nicht einfach drauflosgetanzt. Eine strenge Etikette regelte das Zusammentreffen von Frauen und Männern auf dem Tanzparkett. Die Diplom-Kulturwissenschaftlerin Michaela Mettel beschäftigt sich mit diesen alten Formen des Tanzes. Und unterrichtet sie sogar.
Der Kontrast könnte kaum größer sein: Während die jungen Leute heute in der Disko kreuz und quer umherhüpfen, herrschte in früheren Jahrhunderten beim Tanzen eine strenge Etikette. Schrittfolge und Choreografie mussten eingehalten werden. Wer mit wem und wann – alles war genau geregelt. Und während heute fast keiner mehr auf die Garderobe achtet, galt damals eine strenge Kleiderordnung. „Eine Tanzausbildung gehörte bei den gehobenen Schichten zum guten Ton", sagt Michaela Mettel. Die Diplom-Kulturwissenschaftlerin ist Expertin für die Tänze der Renaissance und des Barocks. Ob Menuett, Allemande, Contredanse oder Quadrille – lange Zeit prägte der Tanz das gesellschaftliche Leben in Europa. „Sehen und gesehen werden", lautete das Motto auf den Bällen an den Fürstenhöfen.
Zurzeit schreibt Mettel ihre Doktorarbeit, darin analysiert sie historische Tänze aus Italien. Die 37-Jährige ist Mitglied im Verein Dance & History: Tänzer, Tanzliebhaber und Wissenschaftler aus der ganzen Welt beschäftigen sich mit dem Gesellschafts- und Bühnentanz vom 15. bis zum 19. Jahrhundert. Und das nicht nur in der Theorie. Neben Vorträgen stehen bei den Treffen Workshops und Tanzabende auf dem Programm. Michaela Mettel möchte das Kulturgut nicht nur erforschen, sondern auch bewahren. Deshalb gibt sie ihr Wissen in Kursen weiter. Zum Beispiel an der Universität des Saarlandes oder an der Familienbildungsstätte in Saarlouis.
Gutes Gedächtnis und Timing
Wir besuchen die Tanz-Trainerin während einer Übungsstunde im Saarbrücker Fitnessstudio „Workout by Giusi". Schnell wird klar: Wer historische Tänze lernen möchte, sollte ein gutes Gedächtnis, Orientierungssinn und Timing haben. „Erst muss die Choreografie sitzen", betont Mettel. Nach den Aufwärmübungen erfahren die Teilnehmenden, auf welchen Wegen sie sich durch den Raum bewegen müssen. Dann stellen sich die Tänzer in zwei Reihen auf, jeweils eine Dame und ein Herr stehen sich gegenüber und bilden ein Paar. Zunächst schreiten die Partner Rücken an Rücken aneinander vorbei. Dann reichen sie sich beim Gehen die Hände und bilden eine sogenannte Kette. „Wunderbar, sieht doch gut aus", lobt Kursleiterin Mettel. Aus dem Lautsprecher tönt barocke Klaviermusik. Oder sind es Cembalo-Klänge? Jetzt steht die erste Schrittfolge auf dem Programm: Set & Turn – also Zweisprung und Drehung. Los geht’s mit einem Hüpfer zur Seite. Zunächst in die eine Richtung, dann wieder zurück. Es folgt eine Drehung am Platz. Nicht ständig sind alle in Bewegung. Immer wieder mal wird ein Paar zum „Bäumchen" und darf zuschauen. Zeit zum Wurzeln schlagen bleibt aber nicht. Schon geht’s weiter. Und am Ende – na klar – gibt es eine höfliche Verbeugung.
„Der Spaß steht im Vordergrund", versichert Trainerin Mettel. Auch früher, so ihre Vermutung, hatte die tanzende Gesellschaft Freude auf dem Parkett. Das schließt die Saarbrückerin aus den Quellen, die sie studiert hat. Die britische Schriftstellerin Jane Austen (1775-1817) beschreibt in ihren Briefen, wie glücklich und zugleich erschöpft sie nach den Tanzabenden war. Für die Damen war es damals die einzige Möglichkeit zur sportlichen Betätigung. Ansonsten wurden ihnen leichte Spaziergänge empfohlen. Oder flottes Treppensteigen. Nicht nur die Literatur gibt Hinweise zur Tanzkultur. Auch Fresken, Gemälde und Buchillustrationen zeigen entsprechende Szenen. Die frühesten Tanztraktate stammen aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Noten wurden aufgeschrieben und Schrittfolgen erläutert. Illustrationen mit Fußabdrücken, die den Tanzweg veranschaulichen, kamen erst später auf.
„Tanzabende waren Cardio-Training"
Die Quellen belegen: Der Tanz war über Jahrhunderte eine sehr ernste Angelegenheit, die den Mitwirkenden viel abverlangte. „Man musste mit sich selbst, dem Partner und den umgebenden Tänzern eins sein", erläutert Mettel die damalige Erwartungshaltung. Tanzmeister überwachten das strenge Reglement. So romantisch wie in den Verfilmungen der Bücher Jane Austens verliefen die Bälle nicht. Statt makelloser Damen mit stets perfekt sitzenden Frisuren – wie man sie von der Leinwand kennt – prägten verschwitzte Frauen mit hochrotem Kopf und zerzaustem Haar das Bild. „Tanzabende waren ordentliches Cardio-Training", weiß die Expertin. Da blieb keine Puste mehr übrig zum entspannten Plaudern. Zumindest nicht während der Bewegung. Nicht alle tanzten gleichzeitig – es gab lange Pausen, in denen man sich unterhalten konnte.
Aber konnten die Damen in den wallenden Kostümen überhaupt unfallfrei übers Parkett huschen? Zuhause präsentiert Michaela Mettel ein von ihr genähtes Kleid, wie es Anfang des
19. Jahrhunderts in England und Frankreich getragen wurde. Damit konnte man sich frei bewegen und Sprünge machen, deshalb ist es auch relativ kurz gehalten. „Man durfte sogar ein bisschen Knöchel sehen", erläutert die Fachfrau. Eher zu repräsentativen Anlässen – etwa der Krönung Napoleons – schlüpften die Damen in die dunkelblaue Hofschleppe, die neben dem Tanzkleid hängt. Wegen des langen Saums eignete sich das Kostüm nicht zum Tanzen. Mettel schneidert auch originalgetreue Corsagen. Sie sorgten früher für die gewünschte Silhouette – passend zum gerade aktuellen Modeideal. Mal wurde die Brust nach oben geschnürt, mal die Taille mit Hüftpolster betont. Mettels Erfahrung: Auch die Kleid-Unterkonstruktionen hinderten beim Tanzen wenig.
Die Tanzleidenschaft wurde Michaela Mettel nicht in die Wiege gelegt. Zunächst hatte sie keinen Bezug zur rhythmischen Bewegung. Im Gegenteil. Eine Tanzvorführung ihres Sportvereins, bei der sie mitwirkte, ging wohl ziemlich in die Hose. So zumindest wurde es ihr berichtet. „Ich kann mich nicht daran erinnern, wahrscheinlich habe ich es verdrängt", erzählt sie mit einem Schmunzeln. Auch als sie einen klassischen Tanzkurs machte, sprang der Funke noch nicht über. Mettel beschränkte sich zunächst auf die Zuschauerrolle: Tanzsendungen im Fernsehen verfolgte sie gern. Nach dem Abitur wollte sie Archäologie studieren. Ihre Mutter und ihr Vater waren von der Idee nicht begeistert. „Das ist brotlose Kunst", fürchteten die Eltern. Die Tochter änderte ihre Pläne: Jetzt favorisierte sie ein Lehramtsstudium mit den Fächern Kunst, Geschichte und Theologie. Doch die Mappe mit eigenen Werken, die sie für die Kunst-Aufnahmeprüfung zusammenstellte, überzeugte die Jury nicht. Michaela Mettel wurde nicht genommen. Ein Flyer, der ihr zufällig in die Hände fiel, machte sie schließlich auf Historisch orientierte Kulturwissenschaften aufmerksam. Das interdisziplinäre Studium sprach die Saarländerin direkt an: Frühgeschichte, klassische Archäologie, Kunstgeschichte, Religionswissenschaften und die Geschichte der frühen Neuzeit standen auf dem Lehrplan. Auf dem Campus der Saarbrücker Uni kam sie dann auch erstmals mit dem historischen Tanz in Berührung. Ein Freund, der an einem Barock-Tanzworkshop teilnehmen wollte, suchte jemanden, der mitmacht. Die Epoche interessierte Mettel. Das anstehende Training sah sie allerdings skeptisch: „Das wird nie was." Doch es kam anders: Die Schrittfolgen, die Körperspannung und die Bewegungsabläufe faszinierten die Anfängerin – obwohl ihr nichts in den Schoß fiel. Sie trainierte fleißig, biss sich rein. „Es ist harte Arbeit, man muss dran bleiben", erklärt Mettel. In verschiedenen Gruppen ist sie auch schon öffentlich aufgetreten, etwa auf Mittelaltermärkten.
Bälle dienten der Partnerfindung
Neben dem Tanz, Krafttraining und Jumping-Fitness – einer Art Trampolinspringen – gehört das Malen zu Mettels Hobbys. Wobei sie die Farbe nicht aus der gekauften Tube drückt, sondern mit Pigmentpulver, Ei, Wasser und Leinöl selbst anrührt. Übrigens: Eine Gemeinsamkeit gibt es dann doch zwischen den modernen und den historischen Tänzen. Viele junge Leute, die sich in der Disko zunächst auf die Füße traten, standen später nebeneinander vor dem Traualtar. Auch früher dienten die Bälle der Partnerfindung. Oft boten sie die einzige Möglichkeit, mit dem anderen Geschlecht in Kontakt zu kommen. Das war eine Befreiung, bis dahin wurden die Ehen meist arrangiert. „Öffentliche Tanzveranstaltungen waren die reinsten Heiratsmärkte", sagt Michaela Mettel.