Die EU muss politisch und militärisch zu einem Machtfaktor werden
Die russische Invasion in die Ukraine markiert einen Epochenwechsel in mehrfacher Hinsicht. Erstens: Kremlchef Wladimir Putin hat die Masken fallen lassen. Er tritt nun offen als Diktator und Aggressor mit imperialen Ambitionen auf. Zweitens: US-Präsident Joe Biden hat seinen angekündigten Haupt-Fokus auf China ad acta gelegt. Angesichts des russischen Angriffskrieges verlagert er sein Engagement vor allem nach Europa – wie zu Zeiten des Kalten Krieges.
Drittens: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat mit seiner berühmten „Zeitenwende"-Rede am 27. Februar eine 180-Grad-Volte in der deutschen Sicherheits- und Russlandpolitik eingeläutet. Die Landes- und Bündnisverteidigung bekommt einen Stellenwert wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Putins gewaltsame Veränderung der Grenzen in Europa verlangt – so Scholz – die Definition von roten Linien. Der Kanzler hat seine klare Kursbestimmung zwar zunächst mit einer Wischiwaschi-Linie in der Praxis konterkariert. Doch mit der Zustimmung zur Lieferung schwerer Waffen an die existenziell bedrohte Ukraine hat er beigedreht.
In Europa ist die Zeitenwende hingegen noch nicht angekommen. Dabei bietet sich mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine die Notwendigkeit und die Chance, die EU stärker zu machen.
Zwei Länder begünstigen diese Entwicklung: Frankreich und die Vereinigen Staaten. Aber die Zeit läuft. Frankreich hat mit der Wiederwahl von Präsident Emmanuel Macron eine fünfjährige Atempause bekommen. Im Jahr 2027 muss der Turbo-Europäer Macron qua Verfassung den Élysée-Palast räumen. Bis dahin hat er die Möglichkeit, die tiefen sozialen Gräben in Frankreich zu überbrücken und die Rechts- und Linksextremen mit ihren unfinanzierbaren Wünsch-dir-was-Programmen in Schach zu halten. Die EU sollte den Macron-Effekt nutzen.
In Amerika tickt die Uhr noch schneller. Präsident Biden ist bis 2024 gewählt. Ob er danach noch im Weißen Haus sitzt oder der EU- und Nato-Gegner Donald Trump beziehungsweise ein Trumpist, ist offen. Biden ist sehr an einem kraftvollen Europa interessiert. Es spielt in seiner internationalen Allianz der Demokratien gegen immer robuster agierende Autokratien wie Russland oder China eine Schlüsselrolle.
Die EU ist wirtschaftlich gesehen ein Machtfaktor, hat aber außen- und sicherheitspolitisch nur begrenztes Gewicht. Das muss sich vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges ändern. Die Erfahrung hat gezeigt: Die Diplomatie ist ohne entsprechende militärische Unterfütterung zum Scheitern verurteilt. Putin lässt sich nicht mit frommen Wünschen von weiteren Militäraktionen abhalten.
Eine starke Verteidigung ist der erste Imperativ einer europäischen Zeitenwende. Viel mehr als in der Vergangenheit sollte die Rüstung koordiniert und synchronisiert erfolgen. Nicht jedes Land braucht in gleichem Maße Panzer, Kampf-Flugzeuge oder bewaffnete Drohnen.
Frankreich und Deutschland sollten die Führung übernehmen und das neue Europa vorantreiben. Scholz wäre zu empfehlen, dass er möglichst schnell auf Macron zugeht – Vorgängerin Angela Merkel (CDU) hatte den Franzosen mit seinen ambitionierten Europa-Vorstößen zu lange ins Leere laufen lassen. Der militärische Arm der EU ist dabei nicht als Konkurrenz zur Nato zu verstehen. Vielmehr arbeiten beide Hand in Hand. Bidens Angebot eines reanimierten Transatlantizismus sollten die Europäer annehmen. Aber sie müssen mehr leisten als bisher. Die Hoffnung, die eigene Sicherheit an die Amerikaner outzusourcen, ist passé.
Auch in politischer Hinsicht muss die EU mehr Muskeln aufbauen. Dass Länder wie Ungarn etwa bei Sanktionen gegen Moskau den Kurs der Gemeinschaft blockieren können, passt nicht mehr in die Zeit. Die neue Epoche, die nach Russlands Attacke auf die Ukraine begonnen hat, erfordert eine schlagkräftigere EU. Das geht nicht ohne Strukturveränderungen. Entweder ein Kerneuropa rund um Deutschland und Frankreich vereinigt sich in einer Koalition der Willigen. Oder die Gemeinschaft gründet sich neu – kleiner, aber handlungsfähiger.
Es wäre die angemessene Antwort auf die Vorstöße von Autokratien wie Russland, die die regelbasierte internationale Ordnung durch das Recht des Stärkeren ersetzen wollen. Die Debatte über die europäische Zeitenwende sollte geführt werden. Möglichst schnell.