Eine Reise nach Hamburg für einen Besuch im Zwei-Sterne-Restaurant „100/200 Kitchen" ist dringend zu empfehlen. Außerdem ist es unter den ersten Trägern des erst 2020 initiierten „Grünen Stern" für strikt gelebte Nachhaltigkeit. Die empfohlene „Wegeaufnahme" des Guide Michelin lohnt sich zu 100/200 Prozent.
Thomas Imbusch hat seinem mitten in einem Gewerbegebiet situierten Genuss-Tempel eine Transformation mit allen nachhaltigen Parametern verpasst, wie es konsequenter nicht sein könnte. Wie ein Phönix ist sein Culinarium aus Stahl, Glas, Fliesen und Beton der Asche entstiegen. Bereits als Kind hatte das Gebäude eine fast magnetische Anziehung auf Imbusch. Mit den Eltern habe der bärtige 1,90 Meter große Mann mit der markanten Schwarzbrille aus dem Oldenburger Münsterland oft Freizeit in Hamburg verbracht; als junger Pedalierer die Radstrecke an der Elbe entdeckt. Der wegweisende Kran stand damals schon. Hier an den rauen Elbbrücken gabs nur kafkaeske Industrie: eine Wollfabrik, eine Tankstelle, ein Straßenstrich. Hier wollte keiner hin und schon gar nicht bleiben: „Mehr Hamburg geht nicht. Wenn du aus Süd-Niedersachen hier einrollst, ist hier geografisch das erste Gebäude der Hansestadt. Früher war es ein Loch ohne Dach, Fenster oder Licht – eine 4.000 Quadratmeter große Graffiti-zugekleisterte Brache."
Für Imbusch war der Ort Prophezeiung. Er wusste, dass sein Traum, ein nachhaltig durchdachtes, „unklassisches" Restaurant zu erschaffen in dieser Ruine stattfinden würde. In stoischer Kompromisslosigkeit hat er das Restaurant nach seinen Vorstellungen ausbauen lassen. „Alles hier ist Materialität – streng und besten Gewissens ausgewählt. Man darf weder an Bequemlichkeit noch hohen Kosten für beste Qualität scheitern", erzählt Imbusch mit ernster Mimik. Der heute 35-Jährige war die klassische Abbiege als Koch gegangen, hatte im „Park Restaurant" in Bremen und bei Christian Bau im Drei-Sterne-Haus „Victor´s Fine Dining by Christian Bau" gelernt. Nach dem „Mehr-und-weniger-zugleich-Prinzip" will er vieles anders machen.
Die hohe Glasfront des „100/200 Kitchen" im dritten Stock des Industrielofts gibt den Blick frei auf die Stahltopografie der Elbbrücken. S-Bahnen fahren surreal im Licht der blauen Stunde. Gleich werden die Gäste weich in Lederhochstühlen an massiven Tischplatten aus poliertem Edelholz sitzen. Das Leder komme aus Deutschland, sei mit natürlichem Farbstoff gefärbt. Jeder Tisch sei mit seinen eingewachsenen Baumrinden ein lebendiges Artefakt. Die Messerbänkchen aus massivem Messing werden in Kleinserie produziert. Die Gänge werden von unglasiert-mattem Biskuit-Porzellan (Stefanie Hering) getragen.
Perfekt gelebte Nachhaltigkeit
Sorgsam bereitet das Serviceteam das Raumbild vor. Ihr puristisches Fair-Baumwoll-Outfit (Frank Leder Menswear) ist handgenäht. Sophie Lehmann trägt stets ein Kleid. Der ebenso kompromisslose wie emotionale Anspruch der Sommelière und Lebens-gefährtin Imbuschs sei auch seine DNA, die sie nur gemeinsam so verstoffwechseln könnten, um eine Synergie aus Handwerk, Genuss und Gastgeberkultur mit allen nachhaltigen Parametern zu leben. „Hinter jeder Manufaktur steht ein Mensch mit Leidenschaft. Schönheit trifft auf Haltbarkeit. Wir versuchen Schnittstellen aus allem zu bilden. Es gibt keine Blaupause in Sachen perfekt gelebter Nachhaltigkeit. Es ist ein sich ständig entwickelnder Prozess", sagt Lehmann und Imbusch ergänzt. Genuss solle ohne Reue gelebt werden. „In der Einfachheit steckt die Komplexität", so sein Mantra.
Die Gäste beginnen den Abend minimal zeitversetzt. Nach Ankunft in einem sanft abgedunkelten Vorraum mit Lederschaukel werden sie zur „Schaubar" geleitet. Bei einem Glas weiß geklärtem Tomatentee mit Kräuterölen sichtet man beim ersten Amuse-Bouche die überraschenden Zutaten des saisonalen Menü-Akts – aufgebahrt auf dem Welcome-Tresen. Sakral angeleuchtete Wandaltäre mit Querbeet-Fermentiertem finden sich verteilt im Raum. Auch Eingelegtes und Geräuchertes werden die Menüs ganzjährig begleiten. „Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt! Eine Anpassung des Mahls ist nicht möglich", so die resolute Gastansage von Imbusch und Lehmann.
„Vier Themen. Ein Mahl ohne Auswahlmöglichkeiten und Geleitzüge" –darunter Weinseliges, Anderes und Rauschfreies mit unbekannten Namen – sind bereits seit drei Jahren Konzept. Sommelière Lehmann wählt Bio-, Homemades und niemals industriell erzeugte Liquids, die sich „gegenseitig steigern, reizen oder vollenden". Von (Natur-)Weinen, Sake, Bier oder Sherry von jung nach alt, aber unchronologisch. Champagner gilt als „Munderfrischer" – auch mal für Zwischendurch.
Auszubildende heißen Anwärter
Im frühen klar-kalten Jahr liegen beim ersten Menü-Saisoncluster „Wasser und Salz" Fisch und Meeresfrüchte wie Taschenkrebse, Kaviar oder Austern aus heimischen Gewässern, nahen Seen und Meeren im Schaukasten. Darunter auch handgefischte sechs Kilogramm schwerer Wolfsbarsche aus Portugal, die gut abgehangen neben dem „Schinken" vom Ibérico Westfalia-Schwein in der wandeingelassenen Kühlvitrine warten. Mittendrin überraschen ein Markknochen und ein Stück Deichkäse (Parmesan des Nordens), die als Signatures als Toast mit Champignonfächer – gehobelt wie ein Tête de Moine oder ausgekocht als Dashi – mit den Hummervariationen sowie als Liebesknochen mit Markcreme und Kaviar ihren Auftritt haben werden.
Bei „Feld & Flur" kommen Rind, Geflügel und Fisch mit der ersten Obst- und Gemüseernte als „omnivores Allesfresser-Mahl" auf die Teller. Im Speziellen: vier Jahre alte Deutsch Angus Färse – großgezogen vom Schlachter des Vertrauens. Im Menü „Die Saison" – der sommerlichen Zeit des Überflusses – wird 100 Prozent Vegetarisches gereicht. Bei „Feuer und Rauch" treffen tiefgründige Aromen und Winterfrüchte auf das Wild heimischer Wälder. „Respekt vor Lebensmitteln und Kooperationen mit kleinen Produzenten sind Usus. Auch Fragen nach Herkunft des Saatguts, Permakultur, kleine Chargen sowie der gesamten Logistik sollten gestellt werden.
Perfektes Lüftungssystem
Im Gastraum arbeiten an die zehn junge, in der hauseigenen Akademie ausgebildete „Anwärter". Manche sind gleichzeitig am Gast und an der Kochbühne: Sie folgen Imbusch im Ablauf wie einem vertrauten Bruder. Jeder Gang, jeder Griff, das dezente Referieren der Gänge sitzt und fließt ineinander wie eine fein getaktete Gesamtchoreografie. Der Service-Duktus: hochprofessionell, aber subtil lässig auf Augenhöhe. „In unserer hauseigenen ‚Brandherd Esskultur Akademie‘ vermitteln wir ganzheitlich und vollumfänglich das Handwerk der Gastronomie." Gleichzeitig achtet das Paar auf soziale Parameter wie eine Vier-Tage-Woche und fundierte, sehr praktisch angewandte berufsfeldnahe Weiterbildung ohne den klassischen IHK-Abschluss. Ein in Deutschland bisher einmaliges Alternativ-Bildungskonzept. Selbstbewusst kreiselt das Team um das Herzstück – einen offenen Molteni-Herd. Alle Arbeitsstationen sind hufeisenförmig angelegt. „Wir sehen die Küche als verbindenden, nahbaren Ort, wie früher die Ur-Küchen. Einen Herd in dieser Größe in diesen langen Raum zu stellen, ist eigentlich ein ablufttechnisches Desaster für jeden Raumluft-Ingenieur", grinst Imbusch, der behauptet, wohl das einzige Restaurant in Deutschland zu haben, das jeden Tag eine Million Kubik Liter Luft filtert und neutralisiert. Bei 150 Kilowatt Heizleistung riecht es nicht nach Essen. Nur die knusper-buttrigen Franzbrötchen von der getourten Brioche mit Vanillerahm und Zuckerguss stehen an einem zirkulierenden Luftsystem. Der Zimtduft kriecht direkt in die Herzkranzgefäße. Wie alle „100/200"-Desserts ist dieses nicht pappsüß, mit der nett-flapsigen Anleitung, es von Hand zu zupfen. Dieses Signature findet sich ebenso wie die zum Homemade-Sauerteigbrot gereichte, göttlich-gut-einfache Quarkcreme mit Kräuterölen immer am Tisch. Auch das vorgängige „Reset", bei dem durch fünf Miniatur-Starter alle Grundgeschmäcker sensibilisiert werden, ist ein festes Ritual.
Die Raumgröße brauche es auch, um das ganze Tier im „Nose to Tail"-Prinzip ordnungsgerecht zu zerlegen und zu verwerten, betont Imbusch, der sich unverblümt als verdammt guter, hart-ästhetischer Handwerker betitelt. Etwa vier Meter vom Herd entfernt sitzen die Gäste an ihren Tischen wie auf individuellen Tribünen des genüsslichen Beobachtens. Nah, so nah spüren sie diese Energie, die sich kurz vor dem überbordenden Siedepunkt mit der richtigen Contenance verbindet. Der Tanz von Vollblutgastronomen, die voller Emotion und Engagement zwischen 100 und 200 Grad ein intensives Mahl erschaffen, das tief bis ins Mark berührt.