Hollywoodstar Ethan Hawke spricht mit uns über seine Serie „Moon Knight", sein Credo als Schauspieler, wieso er die Welt nicht versteht und welchen Einfluss Marlon Brando und Julia Roberts auf ihn hatten. Er ist ein offener Gesprächspartner, der erst nachdenkt, bevor er redet.
Mr. Hawke, Sie haben sich in der Vergangenheit sehr skeptisch zu Super-Hero-Movies geäußert. Jetzt spielen Sie selbst in einer Super-Hero-Serie mit. Was hat diesen Sinneswandel herbeigeführt?
Lange Zeit fand ich es sehr bedenklich, dass diese Super-Hero-Movies eigentlich nur gemacht wurden, um damit möglichst viel Geld zu scheffeln. Der künstlerische Aspekt war eher marginal. Aber dann kam der Produzent Kevin Feige, der mit seiner Vision ein völlig neues und sehr interessantes Marvel-Universum fürs Kino geschaffen hat. Er weiß wirklich ganz genau, was er tut. So auch bei „Moon Knight". Was die Auswahl meiner eigenen Projekte betrifft, ist es für mich sehr wichtig, mit talentierten Menschen zusammenzuarbeiten. Da traf es sich gut, dass ich schon lange ein großer Fan von Oscar Isaac bin; ich finde es ganz fantastisch, was er macht. Als wir uns zufällig in einem Café in Brooklyn, wo wir beide wohnen, über den Weg gelaufen sind, hat er mit von „Moon Knight" erzählt und gesagt, dass er mich unbedingt mit an Bord haben wollte. Daraufhin habe ich mir die ganze Sache mal genauer angeschaut und war sofort total begeistert. Ich spiele Arthur Harrow, den Anführer eines satanischen Kults, der die Weltherrschaft übernehmen will – und bin somit der Gegenspieler von Oscar alias Moon Knight. Die Rolle hat mir einen Riesenspaß gemacht, auch weil sie sich von den Vorgaben des Comicbuches weitgehend befreit hat, und ich viele neue Elemente hinzufügen konnte.
Als Inspiration für Arthur Harrow dienten Ihnen viele historische Persönlichkeiten, deren Merkmale Sie in diese Rolle gepackt haben, zum Beispiel der amerikanische Sektenführer David Koresh, Leo Tolstoi, der Nazi-Arzt Josef Mengele, Fidel Castro, der Dalai Lama und der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung. Mich interessiert vor allem, was Sie sich von Jung herausgezogen haben.
Jung hat mich tatsächlich am meisten inspiriert. Während ich mich mit dem Projekt beschäftigt habe, fiel mir auf, wie viel Psychologie in der Geschichte steckte. Wie sehr eigentlich alle Marvel-Movies – und ganz besonders „Moon Knight" – mit Symbolen arbeiten. Und mit Träumen. Und da ja Marc Spector alias Moon Knight von schrecklichen Alpträumen gepeinigt wird und oft nicht weiß, ob er träumt oder wach ist, fiel mir Jung ein, der sich in seiner Arbeit ja ganz wesentlich mit der Analyse von Symbolen und Träumen befasst hat. Und was meine Rolle betrifft: Arthur will in seinem Wahn die ganze Welt von Schmerzen befreien. Das hat mich irgendwie auch an einen Arzt erinnert. (lacht) Und da ist der Schritt zum Nervenarzt nicht mehr weit.
Ohne Leid gibt es aber kein Leben. Alles existiert doch nur im Gegensatz.
Richtig. Ohne Schmerz und Leid auch keine Freude, kein Glück. Ich habe mir für meinen Part sogar ein paar Sätze von Jung geklaut.
Haben Sie sich schon mal einer Psychoanalyse unterzogen?
Nein, das habe ich nicht. Aber es würde mich durchaus interessieren.
Vielleicht erspart Ihnen die Schauspielerei die Psychoanalyse.
Das kann gut sein. Wenn ich so darüber nachdenke, finde ich, dass meine Schauspielausbildung der Psychoanalyse sehr nahegekommen ist. Denn um sich tief in einen fremden Charakter einzufühlen zu können, muss man sich wohl selbst erst einmal gründlich kennenlernen. Dazu gehört sehr viel Selbst-Analyse. Wenn ich nämlich gar nicht weiß, wie ich auf meine Mitmenschen wirke, kann ich mein Verhalten ja auch nicht steuern. Oder gar bestimmen, wie ich die von mir dargestellte Figur am glaubwürdigsten in die Story einfügen kann.
In Ihren Anfängen hat Ihnen eine gewisse Arroganz dabei geholfen, überhaupt auf eine Bühne zu gehen oder vor eine Kamera zu treten, sagten Sie mal. So nach dem Motto: „Ich weiß zwar nicht viel, aber ich kann ganz gut so tun als ob." Das könnte man auch Mut nennen.
Damals, als ich das sagte, habe ich versucht, sehr demütig zu klingen, was ich in Wirklichkeit aber gar nicht war. Davon mal abgesehen: Natürlich gehört schon ziemlich viel Mut dazu, sich als Schauspieler so schutzlos vor aller Welt zu produzieren. Das erinnert mich an meinen Lieblingsausspruch von Bob Dylan. Er sagte mal, wenn man in der Kunstszene etwas Substanzielles leisten will, muss man schon eine gewisse Arroganz haben, damit man das auch hinkriegt: „Für fünf Minuten musst du fest daran glauben, dass dein Song die Welt verändern wird. Und dann musst du aber auch die Demut aufbringen und erkennen, dass das nicht passieren wird." Was ich eigentlich damit sagen will, ist: Künstlerischer Mut erfordert ein gewisses Maß an Arroganz!
Sprechen wir jetzt mal darüber, wer Sie als Schauspieler beeinflusst hat. Da nennen Sie Marlon Brando. Das leuchtet ein. Denn er hat ja fast alle Schauspieler geprägt, die nach ihm kamen. Und Sie nennen Julia Roberts. Julia Roberts!? Bitte erklären Sie!
Marlon Brando hat die Schauspielerei auf der ganzen Welt ein für alle Mal verändert. Und zwar er ganz alleine. Natürlich könnte man einwenden, dass da vorher die großen Schauspiellehrer Stanislawski und Tschechow waren. Aber Marlon Brando und sein Schauspiellehrer Lee Strasberg haben für ihre eigene Arbeit sehr viel davon übernommen. Nach Brandos Aufritten in „Die Faust im Nacken" und „Endstation Sehnsucht" waren plötzlich alle Schauspieler an der naturalistischen Darstellungsweise interessiert. Und haben Brando natürlich auch bis zum Gehtnichtmehr imitiert. Genau diese naturalistische Art, Geschichten zu erzählen, habe ich mir – auf meine Weise, wie ich hoffe – also angeeignet. Ohne ihn zu imitieren.
Und was Julia Roberts betrifft …
… da tauchte Anfang der 90er-Jahre ein neues Gesicht in Hollywood auf, eine junge Schauspielerin, die mit ihrer Natürlichkeit und ihrem Lachen alles überstrahlte. Bei ihr sah alles so spielerisch und leicht aus. Und sofort haben viele –
auch Männer – versucht, ihre Spielweise nachzuahmen. Sie jagten Julias Star-Charisma regelrecht nach. Sie war aber so überwältigend und wunderbar, da kam einfach niemand heran. Denn Charisma kann man sich nicht antrainieren! Man hat es einfach, oder man hat es nicht. Ich ließ mich von Julia Roberts vollkommen bezaubern. Und daran hat sich bis heute nichts geändert. Ich freue mich schon sehr darauf, mit ihr im Film „Leave The World Behind" gemeinsam vor der Kamera zu stehen.
Ihre Aussage „Ich begreife die Welt nicht!" hat mich sehr überrascht. Hilft Ihnen Ihre künstlerische Arbeit nicht dabei, die Welt wenigstens zeitweilig zu verstehen?
Ich bin fest davon überzeugt, dass genau das das Ziel meiner Arbeit ist. Dass ich damit, egal ob ich vor der Kamera stehe, Regie führe oder ein Buch schreibe, lerne, die Welt wenigstens ein bisschen zu begreifen. Ich verstehe mich als ein kleiner Teil einer großen Künstlergemeinschaft, die versucht, neue Ideen in die Welt zu bringen, Menschen zum Nachdenken anzuregen, dazu, sich ihrer Sinne zu bedienen, zu fühlen, zu sehen, zu hören…. Und dadurch eine Art kollektives Bewusstsein zu repräsentieren.
Sie meinen die Interaktion zwischen Künstlern …
Ja, da entsteht doch ein Dialog, auch untereinander. Wenn ich mir Filme von Pedro Almodóvar, Volker Schlöndorff, Alfonso Cuarón und so weiter anschaue, habe ich das starke Gefühl, dass diese Menschen alle zueinander sprechen – und zu mir und zu der Weltgemeinschaft. Es gibt so viele Ideen, die von Generation zu Generation weitergegeben werden und dadurch wachsen und gedeihen. Das zu ermöglichen ist doch ein Teil unserer Aufgabe als Künstler. Nachdem ich das gesagt habe, glaube ich aber immer noch, dass man als Individuum die Welt nicht wirklich begreifen kann. Trotzdem kann es jeder von uns doch versuchen.
Sie arbeiten als Schauspieler, schreiben Bücher, produzieren Filme, führen Regie, spielen Theater, machen Musik – man könnte Sie für einen Workaholic halten. Sind Sie einer?
(lacht) Im letzten Urlaub mit meiner Familie wurden mir die Grenzen aufgezeigt. Eine meiner Töchter hatte die Idee, über unsere Urlaubsreise einen Film zu machen. Ich fand das toll und fing an, ein Drehbuch zu entwerfen und über Kamera-Perspektiven nachzudenken. Bis mich meine Frau nachdrücklich darüber aufgeklärt hat, dass wir dabei Spaß haben sollten und keine Reality-Doku machen! Also ja, ich stehe meistens unter Strom. Aber die einfache Antwort ist: Ich arbeite eben sehr gerne und habe dabei sehr viel Freude.
Ihre Arbeit steht also immer an erster Stelle?
Das ist eine sehr interessante Frage, mit der ich mich schon seit vielen Jahren herumschlage. Soll ich meine Sehnsucht nach künstlerischer Verwirklichung über alles stellen? Über meine Familie, meine Freunde? Meine Antwort lautet: Für mich gibt es nichts, was an erster Stelle steht. Alles fließt ineinander: mein Kunstanspruch, mein persönliches Leben als Mensch, Ehemann, Dad, Freund, Kollege. Wirklich große Kunst will doch integrieren – nicht ausschließen. Mein persönliches Leben fließt in mein künstlerisches Leben ein und umgekehrt. Daraus schöpfe ich. Und ich weiß, dass ich es richtig mache, wenn diese Dinge sich gegenseitig befruchten.
Sind Sie im Leben Ihrer Kinder immer noch der Kapitän auf hoher See, der sie durch die Lebensstürme zurück in den sicheren Hafen bringt?
(lacht) Ich weiß, auf was sie anspielen: Auf das berühmte „Captain, my Captain"-Zitat aus „Der Club der toten Dichter". Ja, ich versuche es. Das ist die Hauptaufgabe in meinem Leben. Ich will ihr Kapitän sein. Und ich will ihnen beibringen, einmal der Kapitän ihres eigenen Schiffs zu sein.