Der Autor und Journalist Frank Vorpahl beschäftigt sich schon seit nahezu drei Jahrzehnten mit Heinrich Schliemann. Nun hat er ein Buch veröffentlicht und setzt sich für eine differenzierte Sicht auf ihn ein.
Herr Vorpahl, was war Schliemann? Starrköpfig oder visionär? Obsessiv oder getrieben? Genie oder Wahnsinniger?
Es gibt Seiten, die ich überaus bewundere und respektiere. Es gibt andere Seiten, wo man sich mit Abscheu abwendet. Zu den positiven Seiten würde ich sagen, dass er eine sehr hartnäckige Beharrlichkeit hatte. Tatsächlich ist es ihm ja gelungen, vieles zu vollenden, also etwa vom Halbwaisen zum Millionär zu werden. Auch als Reiseschriftsteller ist er zwar nicht wahnsinnig erfolgreich gewesen, aber er hat zwei Bücher selbst finanziert und veröffentlicht. Natürlich hat er es als Hobby-Archäologe mit Energie und Kapital geschafft, eine unbekannte Welt freizulegen. Gleich zweimal: einmal in Troja und einmal in Mykene. Zu der Seite, die von mir sehr skeptisch beäugt wird, gehört sicherlich dieser unglaubliche Mut oder die Kühnheit, Behauptungen in die Welt zu setzen, die mit nichts belegt werden können. Der Schatz des Priamos hat nichts mit dem König Priamos bei Homer zu tun, die Maske des Agamemnon in Mykene nichts mit dem griechischen Heerführer. Und der Kopf der Kleopatra ist eine römische Kopie eines Frauenkopfes aus dem vierten Jahrhundert vor Christus. Er war kühn in seinen Behauptungen und unerschütterlich. Er wäre heute wahrscheinlich ein Twitter-König.
Ist es das, was Sie mit dem doch sehr harten Wort Abscheu verbinden? Also dass er diese Fake News wohl auch heute verbreiten würde?
Mitte des 19. Jahrhunderts war es natürlich so, dass er an Plätze gereist ist, an die kaum ein anderer gereist ist. Ich glaube nicht, dass Schliemann bewusst Fake News in die Welt setzen wollte. Ihm ist durch seinen späteren Assistenten Friedrich Wilhelm Dörpfeld bewusst geworden, dass der Schatz des Priamos nichts mit Priamos zu tun hat, doch er hat das bis zum Ende seines Lebens nicht richtiggestellt. Und vielleicht das noch: Er ist natürlich auch an der Börse groß geworden, wo man Informationen sammelt, auch weiß, dass man mit bestimmten Informationen Dinge steuern kann.
Wie lange haben Ihre Recherchen gedauert?
Ich habe 1996 meine ersten Dokumentationen über den Schatz des Priamos gemacht. In den letzten drei Jahren habe ich mich dann verstärkt mit Schliemann beschäftigt. Ich war auch mehrfach in Troja, auch mit Manfred Korfmann, dem leider verstorbenen Schliemann-Nachfolger aus Tübingen, und insofern hatte man immer wieder Berührungspunkte. Ich glaube, ich habe 14 Filme über Schliemann gemacht, kleine Filme zum Teil.
Schliemann begleitet Sie nun fast 30 Jahre. Haben Sie kein Interesse, ihn im Wüstenstaub zu begraben?
Ich glaube, Schliemann ist interessant, weil er einen riesigen Nachlass hinterlassen hat. Er hat alle seine Briefe kopiert, und er hat ja an Gott und die Welt geschrieben: an gekrönte Häupter, Bismarck, den britischen Premier, den König von Brasilien, aber auch seine Tagebücher geführt. Das Schöne ist auch, dass Schliemann keine Zeit hatte, den Nachlass zu bereinigen. Das heißt, viele Widersprüchlichkeiten, auch Schwindeleien in seinem Leben, kann man sehen. Es macht für einen Historiker, der ich ja von Haus aus bin, großen Spaß, sich da durchzuwühlen.
Gilt das, was man früher als archäologische Funde betrachtete, heute eher als Beutekunst?
Es zählt in jedem Fall als Beutekunst, dass die Sowjetarmee 1945 den Schatz des Priamos aus Berlin mitgenommen und nicht zurückgegeben hat. Dieser Streit hat durch den Krieg mit der Ukraine wieder eine neue Dimension bekommen. Die Kulturbrücken sind abgebrochen worden. Aber das, was Sie meinen, ist, glaube ich, eine Raubkunst-Problematik. Und die betrifft Schliemann schon, auch weil er immer wieder Dinge geschmuggelt hat. Es gibt Forderungen von Präsident Erdogan aus der Türkei, das Schliemann-Gold nach Troja zurückzugeben. Es gibt auch Wünsche von griechischer Seite, dass bestimmte Stücke, die sich in Berlin befinden, zurückgegeben werden. Ich bin mir nicht sicher, ob Raubkunst ein Begriff ist, mit dem Archäologen vor 150 Jahren etwas anfangen konnten. Die sahen es, glaube ich, oft als ein Kavaliersdelikt. Wir aber nicht mehr, weil die Legitimität von damals nicht unsere Legitimität von heute ist.
Schliemann hat zu seiner eigenen Legendenbildung beigetragen und in seiner Autobiografie erwähnt, dass er schon früh von Homer und dessen Erzählungen fasziniert war. Spielt das in seine Faszination für Troja mit hinein?
Heinrich Schliemann in seinen Selbstdarstellungen konstruiert sich natürlich als jemand, der von frühester Kindheit an immer Troja ausgraben wollte, mit seiner Freundin Minna zusammen. Sie hat reagiert und geschrieben: „Heinrich, was schreibst du denn da? Das stimmt doch gar nicht". Was aber Fakt ist, ist, dass – als Schliemann für drei Jahre in Paris lebte – die Antike ein großes Thema war. Mitte des 19. Jahrhunderts waren insbesondere Franzosen begeistert von neuen Ideen. Und davon hat sich Schliemann inspirieren lassen, konkret von einem Buch des Griechen Nicolaides, der eine topografische Karte der Ilias vorgelegt hat. Und da fing er Feuer.
Ist bekannt, woher dieser Hang zur Selbstheroisierung kommt?
Ich glaube, er war ein toller Storyteller und dachte: „Ach, die Geschichte ist noch nicht dramatisch genug, ich füge mal ein bisschen was bei". Als er zum Beispiel als junger Mann nach Venezuela auswandern wollte, hat er Schiffbruch vor der niederländischen Insel Texel erlitten. Erst war das Schiff nur in Seenot geraten, und er konnte sich irgendwie an einer Tonne festhalten. Später wurde daraus sein Koffer. Und zum Schluss war es der Koffer mit seinen Dokumenten drin. Er hat auch für die „Augsburger Zeitung" und für die „Times" in London geschrieben. Er grub sozusagen drei Jahre in Troja, ohne sehr viel zu finden, musste aber Monat für Monat etwas abliefern, und das zwang ihn dann dazu, die Seiten zu füllen.
Sie schreiben im Buch, dass es ihn angetrieben hat, später im Leben seine Bildung nachzuholen.
Ja, das Problem war vielleicht auch dieses prekäre Elternhaus in Ankershagen, also früh Halbwaise und ein Pfarrer, der sich der Trunksucht ergab und die Mägde ins Bett holte. Die Folge von diesen prekären Verhältnissen war, dass er eigentlich nur ein halbes Jahr auf ein Gymnasium gehen konnte. Er war ein hochintelligentes Kind, konnte aber die Bildung nicht genießen. Ich glaube, dass er darunter gelitten hat. Man weiß auch, dass seine russische Ehefrau eine sehr gebildete Frau war und dass er da oft nicht mitkam. Ab Mitte 40 wurde er Student in Paris, fing dann da zum ersten Mal richtig an zu studieren.
Wie kritisch muss gesehen werden, dass er historische Stätten beschädigt oder sogar zerstört hat? Stichwort Schliemann-Graben.
Er hat insbesondere bei seinen ersten Grabungen vieles zerstört. In Troja hatte er die Idee, das homerische Troja müsste ganz unten auf der Urscholle des Hügels von Hisarlik liegen. Mit 150 Arbeitern ging er brachial vor, kannte die Siedlungsschichten nicht, die sich übereinander stapeln. Da passierte etwas Tragisches: Er entsorgte das homerische Troja oder zumindest die Schicht der homerischen Epoche, nach der er suchte, im Schutt. Der heutige Grabungsleiter von Troja, Rüstem Aslan, sagt, Schliemann hat ganze Schichten vollständig zerstört, sodass auch nichts mehr rekonstruiert werden kann. Der Schaden ist schon enorm. Aber es sind auch Schäden, die passierten, weil er wirklich manchmal der Erste war, der so was unternahm. Er wollte eben seine Belege, seine Beweise finden, auch Spuren des Trojanischen Krieges. Da war er schon sehr zielgerichtet und sehr brachial. Zu sehr.
Könnte man sich das vielleicht nicht denken, dass da verschiedene Schichten übereinander sind?
Diese Frage der Siedlungsschichten habe ich mit zahlreichen Archäologen diskutiert. Mit Aslan, aber auch mit Hermann Parzinger, dem Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, der selbst auch nahe Troja gegraben hat. Sie alle sagen, er war da ziemlich als Erster unterwegs. Man musste sozusagen erst mal so einen tiefen Einschnitt machen, um all diese Schichten übereinander sehen zu können. Schliemann hat den Vorteil, dass er von dem, was er gefunden hat, nichts mehr weggeworfen hat, sondern er hat alles unglaublich genau dokumentiert.
Gibt es einen bestimmten Punkt, wo man sagen kann, da ist der Bruch mit seinem „ersten Leben", dem kaufmännischen?
Er war als Mittvierziger sehr spät eingestiegen in die Archäologie. Er dachte, glaube ich, er hat nicht mehr viel Zeit und muss sich sputen, um eine bestimmte Erkenntnis zu gewinnen. Und das hat er nicht geschafft. Er wollte ja vor allen Dingen beweisen, dass Homer und die antiken Epen wirklich faktisch sind. Als er in Neapel starb, war es so, dass er gerade dabei war, seine nächste Grabung in Troja vorzubereiten. Schliemann war also noch nicht fertig, als er gegangen ist.
Möchten Sie mit dem Buch an dem Mythos rütteln?
Ich glaube, wenn man jemanden wie einen Säulenheiligen hinstellt, dann wird er auch leicht uninteressant. Ich finde widersprüchliche Figuren interessanter. Die, deren Widersprüche man auch erforschen kann. Auch die, die so eine Schlitzohrigkeit haben, die auf der einen Seite Größe haben, wo man nur staunen kann. Auch die Disziplin, jeden Morgen früh um vier aufzustehen, das Pferd zu satteln, im Meer zu baden und bis nachts noch Studien zu treiben. Ich glaube, Schliemann hat selbst versucht, um seine eigene Person auch einen Mythos zu weben. Ich weiß nicht, ob es diese großen Helden so in Schwarzweiß wirklich gibt. Bei jeder historischen Persönlichkeit treten die Dinge doch viel zwiespältiger zutage, als man vorher gedacht hat. Schliemann ist groß genug, um kritische Sichten auszuhalten.