Auch 200 Jahre nach seiner Geburt scheiden sich an Heinrich Schliemann die Geister. Für die einen gilt er als Pionier der Archäologie, der durch seine epochalen Entdeckungen in Troja und Mykene die Altertumswissenschaft erst populär gemacht hat. Für die anderen bleibt er ein Dilettant und Kunsträuber.
Als Vorlage für einen Roman war das abenteuerliche Leben von Heinrich Schliemann eigentlich zu unglaubwürdig, es war eher für ein Märchen geeignet. Schließlich war ihm der Aufstieg vom bettelarmen Krämerladen-Gehilfen zu einem der reichsten Männer Europas gelungen. Er überlebte völlig schadlos eine Schiffshavarie vor der holländischen Küste und folgte danach instinktiv der Fährte des ganz großen Geldes vom kalifornischen Goldrausch bis hin zum Krimkrieg, aus dem er als Ausstatter der zaristischen Truppen mit diversen militaristischen Notwendigkeiten als Multimillionär hervorging.
Doch das Vermögen allein genügte dem in seinem Privatleben wenig glücklichen Pastorensohn im reiferen Alter nicht mehr. Ihn zog es plötzlich zur Wissenschaft und zum Schreiben. Schnell musste er aber die leidvolle Erfahrung machen, dass das öffentliche Interesse an seiner Reise-Literatur nicht sonderlich groß war. Sein 1867 in Paris veröffentlichtes Erstlingswerk „La Chine et le Japon au temps présent" blieb bleischwer in den Buchhandlungen liegen. Stattdessen rissen sich die Kunden in seiner zwischen 1866 und 1870 bezogenen Wahlheimat an der Seine, wo er reichlich Geld in den Erwerb von Mietshäusern investiert hatte, um ein heute längst vergessenes Buch eines griechischen Autors namens Giorgos Nikolaidis zum Thema Troja.
Start der großen Epoche der Ausgrabungen
„Ich glaube, das ist für ihn der Moment, wo er sagt: Aha, dann ist es offenbar Homer, Troja. Es sind die antiken Mythen, die die Leute erfassen" – so umschreibt der Historiker und Kulturjournalist Frank Vorpahl, der unter dem Titel „Schliemann und das Gold von Troja" gerade eine lesenswerte Neubiografie vorgelegt hat, das schicksalhafte Erweckungserlebnis des Jubilars (siehe Interview Seite 36). Schliemann schrieb sich daraufhin im Alter von 44 Jahren an der Sorbonne zum Studium der Altertumskunde, der Literatur und der Sprachen ein. Für Letztere hatte er ohnehin so etwas wie eine Naturbegabung. Schliemann galt als Sprachgenie, das zahlreiche Sprachen – die Quellen variieren zwischen sechs und mehr als 20 – beherrschte.
Andererseits war Schliemann geradezu ein Meister der Selbstinszenierung und machte die Archäologie dank der kontinuierlichen Veröffentlichung seiner Grabungsfortschritte zu einem veritablen Medienereignis. Auch wenn er es mit der Wahrheit nicht immer so genau nahm, wie seine Autobiografie eindrucksvoll zeigt. Als Marketing-Genie in eigener Sache ließ er seine zweite Ehefrau, die Griechin Sophia, die er als 17-jährige Schönheit im eigenen Alter von 47 Jahren nach der Scheidung von seiner russischen, aus vermögendem Hause stammenden Gattin Jekaterina Petrowna Lyschina 1869 geheiratet hatte, für ein Pressefoto in den von ihm als „Juwelen der Helena" titulierten Geschmeide aus dem sogenannten Schatz des Priamos posieren. Die Schliemann-Expertin Dr. Stefanie Samida bescheinigte dem wissenschaftlichen Quereinsteiger sogar das Verdienst, der Altertumskunde erst durch den „Dreiklang – bestehend aus Troia, Schliemann, Archäologie" in den heutigen Rang verholfen zu haben.
Mit Schliemanns Arbeit begann jedenfalls die große Epoche der Ausgrabungen. Im Zeitalter des Historismus bestand ein großes Interesse an glorios Vergangenem, populärwissenschaftliche Vermittlung von Forschungsergebnissen stand hoch im Kurs. Allerorten schossen im deutschen gehobenen Bürgertum fern der akademischen Zunft plötzlich Geschichts- und Altertumsvereine aus dem Boden, die in Schliemanns Laientum ein großes Vorbild sahen und ihm als einer Art von Indiana Jones des 19. Jahrhunderts huldigten.
Schliemanns größte Entdeckungscoups resultierten aus der einzigen, von allen zeitgenössischen Fachleuten mitleidig belächelten Maxime, dass Homers „Ilias" nicht nur ein literarisch-mythisches Werk war, sondern dass sich darin auch historisch tatsächlich Zugetragenes niedergeschlagen hatte. Schliemann ging felsenfest davon aus, dass der Kampf um Troja mit genau den in dem Epos genannten handelnden Personen stattgefunden hatte. Er stellte sich die Aufgabe, diese sagenumwobene Stadt ausfindig zu machen, um dann dort tief im Boden nach Relikten jener vergangenen Epoche und möglichen Schätzen seiner Helden zu graben.
Er machte große Fehler bei seinen Datierungen
Dass er schließlich als Doktor der philosophischen Fakultät Rostock, die ihm die Promotion in Abwesenheit für seine eingereichten Werke „Ithaka, der Peloponnes und Troja" aus dem Jahr 1869 sowie für seinen China-Japan-Reisebericht verliehen hatte, Homers Troja auf dem Hügel Hisarlik im Nordwesten der heutigen Türkei nahe der Dardanellen vermeinte lokalisieren zu können, verdankte er letztlich einem Hinweis des britischen Diplomaten Frank Calvert. Dieser hatte als Hobby-Archäologe einen Teil des Hügels in Besitz gebracht, hatte aber mangels finanzieller Ressourcen das Buddeln eingestellt.
Dass der in der Archäologie unerfahrene Schliemann mit Brachialgewalt von seiner Arbeiterhundertschaft zwischen 1870 und 1873 mit rücksichtslosem Spateneinsatz einen langen, tiefen und breiten Graben in der Anhöhe ausheben und dabei wissenschaftlich bedeutsame Schichten entfernen ließ, hat ihm die moderne Forschung bis heute nicht verziehen. Schliemann hatte sich nur für die untersten von insgesamt zehn Schichten interessiert, wo er schließlich im Mai 1873 den wenig später von ihm in Räuber-Manier außer Landes geschmuggelten sogenannten Schatz des Priamos entdeckte. Wie er später leidvoll anerkennen musste, stammte der gefundene Schatz aber keinesfalls aus der Zeit des auf um 1200 v. Chr. datierten Trojanischen Krieges – falls ein solcher Krieg überhaupt jemals stattgefunden haben sollte. Dies wird wissenschaftlich noch immer kontrovers diskutiert. Er ist vielmehr etwa 1.250 Jahre älter – und damit ein Schatz der frühen Bronzezeit. Dennoch bleibt es ein Sensationsfund. Die höher gelegenen Schichten aus der Zeit des vermeintlichen Trojanischen Krieges wurden von Schliemann hingegen nicht untersucht, sondern entsorgt. Bis heute ist zudem in der Forschung heiß umstritten, ob es sich bei der Ausgrabungsstätte tatsächlich um das Homerische Troja handelt, Stichwort „Troja-Debatte".
Auch bei der schon mit mehr archäologischem Sachverstand durchgeführten Grabung im griechischen Mykene 1876 unterlief Schliemann bei der Datierung des Hauptfundes, der sogenannten Goldmaske des Agamemnon, wieder ein aus seiner Homer-Gläubigkeit erklärbarer Fehler. Sie konnte nach Prüfung nicht dem legendären griechischen Heerführer zugeschrieben werden, sondern dürfte einem Fürsten aus der Zeit der mykenischen Hochkultur um 1500 v. Chr. als Grabbeigabe zugefügt worden sein. Nach weiteren Grabungen in Troja, Orchomenos, Ithaka und Tiryns hatte sich Schliemann noch das ambitionierte Ziel gesetzt, in Alexandria nach dem monumentalen Mausoleum Alexanders des Großen zu suchen. Doch der Tod am 26. Dezember 1890 in Neapel infolge einer nicht ausgeheilten Ohrenoperation machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Die Beisetzung in Athen, wo er sich zwischen 1878 und 1881 eine antikisch-hochherrschaftliche Villa hatte bauen lassen, wurde zu einer Art Staatsbegräbnis. Sein acht Meter hohes Tempel-Grabmal hatte er gemeinsam mit dem befreundeten deutsch-griechischen Architekten Ernst Ziller detailliert entworfen.
Jugend und Kindheit waren für den am 6. Januar 1822 in Neubukow/Mecklenburg-Schwerin geborenen Johann Ludwig Heinrich Julius Schliemann eine harte Lektion. Sein Vater verlor 1837 die lukrative Pastorenstelle im ostmecklenburgischen Ankershagen, wohin die Familie 1823 gezogen war, infolge schlechten Lebenswandels samt Trunksucht und sexueller Übergriffe auf die Dienstmädchen. Zu dieser Zeit hatte Heinrich nach dem Tod der Mutter im neunten Kindbett Unterschlupf bei seinem Onkel Friedrich Schliemann gefunden. Allerdings war der väterliche Geldzuschuss nicht ausreichend, um den Besuch des Gymnasiums in Neustrelitz zu finanzieren, weshalb Heinrich nur die dortige Realschule bis zum Alter von 14 Jahren absolvieren konnte. Nach fünf beschwerlichen Jahren als Krämerladen-Gehilfe in Fürstenberg versuchte Heinrich sein Glück 1841 in Hamburg, wo der schmächtige und gerade mal 1,56 Meter große Schliemann schnell seine körperlichen Grenzen als Lagerarbeiter am Fischmarkt aufgezeigt bekam. Kurzerhand entschloss er sich zur Auswanderung nach Venezuela, sollte jedoch vor Texel Schiffbruch erleiden.
Ab 1864 widmete er sich ganz der Wissenschaft
Er blieb in den Niederlanden, wo er sich in Amsterdam vom Kontorboten zum Korrespondenten und Buchhalter bei drei verschiedenen Handelshäusern hocharbeitete. Da er in seiner Freizeit Sprachen gelernt hatte, darunter Russisch, wurde er im Januar 1846 vom Hause B. H. Schröder & Co. zur Gründung einer Filiale nach Sankt Petersburg geschickt. Schon ein Jahr später gründete er dort nach Erwerb der russischen Staatsbürgerschaft ein eigenes, auf Kolonialwaren spezialisiertes Unternehmen mit Schwerpunkt auf Indigo. Da er von seinem in Kalifornien als Edelmetallschürfer tätigen Bruder Ludwig mit dem Goldrausch infiziert worden war, machte er sich 1850 auf gen Kalifornien, um im Goldgeschäft und durch Investitionen in amerikanische Eisenbahnprojekte in kürzester Zeit ein kleines Vermögen zu erwerben.
Zurück in Russland wurde er im Krimkrieg als Großlieferant für Munitionsrohstoffe steinreich. Danach erlahmte bei ihm nach und nach die Lust am Geschäftsleben, aus dem er sich aber erst 1864 endgültig zurückzog. Fortan widmete er sich ganz dem Reisen,
dem Schreiben und der Wissenschaft, wobei er sich nach Aufenthalten in Asien, Nord- und Mittelamerika oder Italien nur ganz langsam dem griechischen Umfeld annäherte. Dort begab er sich 1868 zunächst vor allem auf die Spuren von Homers Odysseus – natürlich mit dem legendären Büchlein „Odyssee" als Wegweiser allzeit zur Hand. Im August 1868 betrat er schließlich erstmals die Gefilde Trojas.